Erfahrung und Dogma

Das Treffen der Facharbeitsgruppe Systematische Theologie

Christian Herrmann

Am 1.–2.2.2002 traf sich die Facharbeitsgruppe Systematische Theologie im Theologischen Seminar Tabor in Marburg. Zu den acht Teilnehmern stieß am ersten Tag noch ein interessierter Seminarist hinzu, der v. a. methodisch-didaktische Hinweise für das geplante Arbeitsbuch beisteuerte.

Von der Erfahrbarkeit der Kirche

Zunächst setzte Pfr. Martin Abraham (wissenschaftl. Mitarbeiter bei Prof. Oswalt Bayer, Tübingen) die ekklesiologische Diskussion mit einem Vortrag unter dem Thema „Ist das Wesentliche für die Augen (un)sichtbar? – von der Erfahrbarkeit der Kirche“ fort, die in früheren Tagungen begonnen worden war. Dabei lag der Akzent auf der Frage der Gotteserfahrung, mit der sich die FAGST kontinuierlich beschäftigen möchte. Deutlich wurden die Probleme, die aus der Überbetonung jeweils einer Seite der Spannung von Dogma und Erfahrung entstehen. So kann es entweder zu einer Verabsolutierung der Erfahrung mit der Gefahr der Blindheit, des Individualismus, der reinen Innerlichkeit oder zu einer Reduktion auf die objektive Seite des Dogmas mit der Gefahr des Institutionalismus, des Sakramentalismus, der Empirielosigkeit kommen. Richtig dagegen ist es, die wechselseitige Beziehung beider Pole herauszustellen. Im Glaubensvollzug wird diese Beziehung manifest als ein nach oben offener Zirkel: „Gott greift durch seinen Geist in den Zirkel ein, indem er die Lebendigkeit der Glaubenswahrheit und die Wahrheit der Glaubenserfahrung erweist“.

In der Diskussion wurde deutlich, dass der Christus in uns von dem Christus außerhalb von uns lebt und es kein Reden von Gott (Dogmatik) gibt, das nichts mit Gott zu tun hätte (Erfahrung). Die Spannung von subjektiver und objektiver Seite wird pneumatologisch überbrückt. So verhindern wahrnehmbare, u.U. narrativ angedeutete notae ecclesiae eine platonisierende Ekklesiologie. Andererseits ist die Kirche im eigentlichen Sinne nicht einfach mit allen möglichen Erfahrungen identisch, sondern „in, mit und unter“ dem tatsächlich Sichtbaren in mehrfacher Weise verborgen. Sie ist nicht vollständig mit sozialwissenschaftlicher Methodik erfassbar. Es sind faktisch immer Ungläubige, unbußfertige Sünder, Heuchler beigemischt, ohne dass diese Mischung freilich von vorneherein so gewollt wäre (im Umgang damit Spannung zwischen donatistischem Rigorismus und vergleichgültigendem Relativismus durch Ideologisierung des Mischungsverhältnisses). Die tatsächlichen Kirchenglieder sind auch aufgrund der allein Gott bekannten Erwählung verborgen. Das Verhältnis von ecclesia militans und triumphans ist das einer eschatologischen Abfolge von „jetzt“ und „dann“. Trotzdem darf bei der Suche nach dem Eigentlichen nicht auf eine Größe jenseits der Kirche verwiesen werden (z. B. Kultur oder Politik), auf die hinzuarbeiten sei, sondern auf das bereits jetzt erfahrbare leibliche Wort. Von dorther können weitere Bezugspunkte in konzentrischen Kreisen benannt werden.

Christliches Dogma heute

Im Vortrag von Pfr. Hermann Hafner (Marburg/ Kassel) zum Thema „Hat das christliche Dogma in der Welt von heute etwas zu sagen?“ wurde zunächst im Anschluss an die Ausführungen von Eberhard Hahn beim voraufgegangenen Treffen der FAG herausgestellt, dass in der liberalen Theologie (z.B. D.F. Strauß, E. Troeltsch) die Diskrepanz von Dogma und gegenwärtiger Wirklichkeitssicht betont und daraus die Notwendigkeit einer Relativierung oder Preisgabe des Dogmas gefolgert wurde. Gelegentlich kommt es zu Ersatzdogmen (z.B. durch Ethisierung: Pazifismus, Völkerverständigung u.ä.). In der Bevölkerung ist nach wie vor ein Szientismus bzw. Materialismus, andererseits ein individualistischer Relativismus wirksam, der aus jeweils unterschiedlichen Gründen mit der Existenz und dem Anspruch Gottes nichts anfangen kann. Häufig wird der Glaube zur Privatsache, zum Bewusstseinsinhalt frommer Menschen erklärt.

Demgegenüber forderte Hafner eine Einmischung der christlichen bzw. zugespitzt: der christologischen Botschaft in das allgemeine Wirklichkeitsverständnis. Der universale Anspruch derselben kommt bereits in der Verwendung des Naturbegriffs zum Ausdruck (Zwei-Naturen-Lehre). Man müsse aufzeigen, dass das Dogma Sachverhalte an- und ausspricht, „die für das Leben der Menschen von höchster Bedeutung sind, auch wenn ihr Denken das nicht zu erfassen vermag“. Christen sollten es vermeiden, einerseits durch die Benutzung bestimmter Geräte an der allgemeinen Weltsicht teilzuhaben, andererseits aber eine zusätzliche und davon völlig getrennte Sonderwelt („Erfahrungsinsel“) aufzubauen.

Die Dogmatik definierte Hafner als „eine intellektuelle Aufgabe, bei der man sich aus dem Fenster lehnen ... muss, um die Perspektiven in der allgemeinen Wirklichkeit der heutigen Welt zu finden, die man im Licht der biblischen Wahrheitsperspektive neu beleuchten kann“. Da die Auseinandersetzung mit den säkularen Weltdeutungen eine Konfrontation mit gottähnlichen Absolutismen darstellt, ist einerseits ein Glaubensbekenntnis und -zeugnis (Erfahrungsseite), andererseits aber auch eine rationale Argumentation (objektive Seite) gefordert, die die eigene Position der Wahrheitsfrage unterwirft und sie „im Horizont der anderen Menschen gegenwärtig und wahrnehmbar“ macht.

In der Diskussion wurde auf Lücken im scheinbar geschlossenen Weltbild der Moderne hingewiesen (z. B. kontingente Ereignisse wie die Erfahrung des Glaubens als Freisetzung, Wunder, personale Beziehungen, die nicht einem naturwissenschaftlichen Kausalnexus unterliegen). Das Dogma ist nicht nur mit der Lebenswirklichkeit zu vermitteln, sondern selber schon konstatierbare Lebenswirklichkeit. Es ist die Frage, wie weit man mit rationaler Argumentation kommen kann bzw. an welcher Stelle der unvermeidliche Sprung zum Glauben stattfindet. Es können Strukturparallelen zwischen den Inhalten der Dogmatik und der Naturwissenschaften aufgezeigt werden, aber gerade die Christologie bleibt singulär. Ein Problem ist auch, dass die aufzeigbaren Denklücken der allgemeinen Weltsicht nicht einfach mit „Gott“, zumal einem personal-trinitarisch verstandenen, gefüllt werden können.

Dogmatik-Arbeitsbuch

Im Hinblick auf das Dogmatik-Arbeitsbuch für Bibelschulen wurde wegen der Hinweise aus dem Kreis der Betroffenen die frühere Konzeption umgeworfen. Das anvisierte Arbeitsbuch soll nicht gängige Gesamtdarstellungen ersetzen, sondern das evangelikale Proprium herausstellen, zugleich von bestimmten praktischen Problemen ausgehend die grundsätzlichen theoretischen Lösungsansätze (v.a. innerhalb des evangelikalen Bereichs) aufzeigen, sich auf wenige Literaturhinweise auf dezidiert evangelikale Darstellungen beschränken und nur wenige Originalzitate verwenden. Um das Ziel einer ganzsemestrigen Verwendung zu erreichen, sollte man sich zunächst auf ein für die evangelikale Theologie besonders wichtiges Themengebiet beschränken, nämlich die Prolegomena. Hierbei wird weiterhin die Frage der Gotteserfahrung im Vordergrund stehen und es muss geprüft werden, inwieweit von anderen dogmatischen Loci her (z. B. Pneumatologie; Ekklesiologie) Prolegomena-Aspekte angesprochen werden können, so dass ein Teil der früheren Konzeption einer Gesamtdarstellung gerettet werden kann. Die Gliederung ist neu zu formulieren und mit den zuständigen Bibelschuldozenten abzusprechen.

Das nächste Treffen findet voraussichtlich am 13./14.9.02 im Theologischen Seminar der Methodisten in Reutlingen statt.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 8/1 (2002)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie

01.08.2002
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