mit dieser Ausgabe von Evangelikale Theologie grüße ich Sie ganz herzlich anlässlich des 25jährigen Jubiläums unserer Arbeitsgemeinschaft. Wir sind Gott dankbar für das, was durch Stipendien und Druckkostenzuschüsse, durch die Studientagungen und die Verleihung unseres Forschungspreises, durch das Jahrbuch und sonstige Publikationen sowie durch die Facharbeitsgruppen geschehen ist. Sie finden in diesem Heft neben einigen aktuellen Berichten eine Dokumentation über diese vielfältigen Aktivitäten in den zurückliegenden 25 Jahren. In meinem Editorial möchte ich nochmals einige wesentliche Perspektiven herausstellen, die für den AfeT seit seiner Gründung bestimmend sind und die seine theologische Arbeit in Forschung und Lehre auch zukunftsfähig machen. Es geht um die Erneuerung der Theologie von der Bibel her und um die apologetisch-missionarische Orientierung ihres Dienstes.
Die christliche Theologie hat nunmehr eine fast 2000-jährige Geschichte hinter sich. Aber wir leben in einer säkularen Welt, die durch den Pluralismus der Ideologien, Philosophien und Religionen geprägt ist, so dass die Frage gestellt werden muss: Hat die christliche Theologie eine ebenso bedeutende Zukunft wie sie eine beeindruckende Vergangenheit hatte? Seit der Aufklärung und speziell seit der Religionskritik des 19. Jahrhunderts haben einflussreiche Philosophen die Zukunft des Christentums überhaupt bestritten. Die aufsehenerregenden Erfolge der modernen Naturwissenschaften sowie die Industrielle Revolution drängten den christlichen Glauben an den Rand der Gesellschaft und beseitigten traditionelle Privilegien der christlichen Kirche.
Will Theologie sich nicht ins bedeutungslose Ghetto zurückziehen, muss sie in ihrer Struktur und Aussage missionarisch sein. Evangelikale Theologie muss aus dieser missiologischen Perspektive heraus gleichermaßen apologetisch-offensiv wie dialogfähig-kommunikativ sein.
Die evangelikale Theologie ist deshalb unlösbar mit dem Geschick der evangelikalen Bewegung als ganzer verbunden. Die Evangelikalen bilden eine weltweite Gemeinschaft von Christen, die ganz bewusst Jesus Christus nachfolgen und seinen Missionsauftrag erfüllen wollen. Sie überschreiten dabei alle Grenzen zwischen den verschiedenen protestantischen Kirchen. Der Evangelikalismus vereinigt also Christen verschiedener theologischer Traditionen und fördert durch sein missionarisches Engagement ein neues theologisches Profil inmitten der historisch gewachsenen Konfessionen des Christentums. Die eigentlichen Sachgründe für die missionarische Ausrichtung der evangelikalen Theologie liegen jedoch tiefer, nämlich in der biblischen Heilsgeschichte selbst begründet. Man kann nur dann eine Zukunft haben, wenn man eine Gegenwart hat. Und in diesem Sinne hat die evangelikale Theologie eine Gegenwart, weil Mission heilsgeschichtlich jetzt ihre Zeit hat. Im Rahmen der biblischen Heilsgeschichte ist Mission in der Zeitperiode, in der wir jetzt leben, Gottes Grundanliegen. Die christliche Kirche ist durch den Heiligen Geist und das Wort des auferstandenen Herrn geschaffen. Und er, Christus, hat in seiner Autorität Mission an die oberste Spitze seiner Tagesordnung gestellt.
Unmittelbar vor seiner Himmelfahrt offenbarte sich Jesus in Gegenwart seiner Jünger als Herr: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel wie auf Erden. Durch diese Aussage unterstreicht Christus die Tatsache, dass der Missionsbefehl in Seiner personalen Wahrheit wurzelt. Das unterscheidet die Wahrheit des christlichen Glaubens fundamental von der der Religionsstifter und großen Philosophen der Vergangenheit. Deren persönliches Mandat ist fraglos mit ihrem Tod zu Ende gegangen.
Darüber muss sich evangelikale Theologie immer neu im klaren sein, dass sie es nicht nur mit einer großen historischen Vergangenheit des Christentums zu tun hat, sondern mit dem lebendigen Gott, der durch den auferstandenen Christus gegenwärtig ist. Weil Christus alle Macht gegeben ist, können Theologen seine Worte nicht nur in Gestalt von Literatur, sondern durch den ständigen Hinweis auf den heute wirksamen Christus zur Sprache bringen. Ich denke hier liegt einer der tiefsten Gegensätze zwischen den evangelikalen und den sogenannten liberalen Theologen. Denn letztere gehen mit der Bibel oft nur auf der Ebene historischer Fragestellungen um.
Theologisches Nachdenken kann sich demgegenüber nur in der Haltung eines demütigen Dieners vollziehen, der die Stimme seines Herrn hört und sich vor ihm beugt. In paradoxer Weise ist deshalb die Haltung der Dienstbereitschaft Grundlage für jedes theologische Selbstbewusstsein und für jede Aussage, die göttliche Autorität für sich beansprucht. Die Autorität des sendenden Christus ist den Aposteln verliehen und wird durch die Missionare aller Zeiten vermittelt und weitergegeben. Theologie findet somit nicht im Sinne eines platonischen Dialogs statt, in dem niemand die Wahrheit von vornherein kennt und in dem die Gesprächspartner erst im gemeinsamen Fragen Klärungen suchen. An Stelle eines solchen platonischen Dialogs hat die christliche Theologie ihren prophetischen Auftrag wahrzunehmen. Der christliche Theologe bzw. Lehrer hat Wahrheit im prophetischen Sinne des alttestamentlichen Verständnisses auszusprechen, wenn er sagt: So spricht der Herr (ko amar Jahwe). Das heißt, die Zukunft der evangelikalen Theologie liegt ausschließlich in der heute wirksamen Autorität des sendenden Christus, der sein Evangelium durch seine Jünger bezeugen lässt.
Die evangelikale Theologie hat ihre Wurzel in der Bekehrung des Verstandes und der intellektuellen Fähigkeiten. Sie erwächst aus der Bekehrung und führt hin zur Bekehrung. Der Maßstab für alle Theologie, die den Anspruch erhebt, evangelikal zu sein, ist, dass sie durch biblisches Denken bestimmt und durch den Heiligen Geist bevollmächtigt ist. Nur so vermag sie aus Nichtchristen Jünger zu machen und diese zu geistlicher Reife zu führen. Es ist also nicht irgend ein spezieller akademischer Standard, der evangelikaler Theologie ihr eigentliches Gewicht und ihre Relevanz gibt, sondern einzig die biblische Fundierung ihrer Inhalte und die missionarische Absicht, in der sie betrieben wird. Evangelikale Theologie kann deshalb nicht dem wissenschaftlichen Ideal des sine ira et studio nachjagen, d.h. einem Denken ohne tiefe persönliche Hingabe. Sie ist nicht eine Wissenschaft im modernen Sinn eines absichtslosen, rein intellektuellen Unternehmens.
Der Herr gebietet seinen Jüngern im Missionsbefehl die Völker zu lehren, allem zu gehorchen, was er befohlen hat. Das Wort alles beinhaltet zwei wichtige Prinzipien unseres Schriftverständnisses, das bereits die Reformatoren des 16. Jahrhunderts in zwei fundamentalen hermeneutischen Grundsätzen zum Ausdruck brachten: sola scriptura und tota scriptura. Die Reformatoren waren überzeugt, dass Christus sie an das geschriebene Wort der Schrift gebunden hatte. Die Theologie verweist mit der Schrift auf die lebendige Quelle, die der auferstandene Christus je neu gebraucht, um sich unmittelbar mitzuteilen. In der Schrift, und einzig dort, kann sein Wille erkannt werden. Es gibt keine andere Quelle der göttlichen Offenbarung, in der Gotteserkenntnis und der Weg zur Erlösung gefunden werden könnte. Diese fundamentaltheologische Wahrheit wird mit dem Prinzip sola scriptura (alleine die Schrift) angesprochen. An diesem Grundsatz muss in der evangelikalen Theologie auch heute festgehalten werden und zwar nicht nur gegenüber dem römisch-katholischen Schriftprinzip, das bekanntlich Schrift und kirchliche Tradition verknüpft, sondern vor allem gegenüber der modernen ökumenischen Konzeption des interreligiösen Dialoges mit den nichtchristlichen Religionen.
Andererseits muss die Evangelikale Theologie auch das hermeneutische Prinzip des tota scriptura (die ganze Schrift) gegen den Liberalismus verteidigen. Denn jeder Versuch innerhalb der Bibel zwischen dem ewigen, authentischen Wort Gottes und dem bloßen Wort menschlicher Schreiber zu suchen, wird ein Fehlschlag sein. Die Geschichte der protestantischen Theologie durch die letzten 250 Jahre hat ein Chaos theologischer Meinungen hervorgebracht. Theologen, die versuchten ihre Theologie auf der Grundlage einer nur noch auszugsweise anerkannten oder zusammengestrichenen Bibel aufzubauen, konnten keine gemeinsame Grundlage mehr für das gemeinsame Christusbekenntnis finden. Ein Kanon im Kanon lässt sich nicht konstruieren. Alle Bemühungen, Theologie dadurch zu entfalten, dass man zwischen göttlichen und menschlichen Aussagen in der Bibel trennt, enden früher oder später im puren Relativismus.
In diesem Zusammenhang ist noch auf eine bemerkenswerte Tatsache hinzuweisen, deren man sich als Theologe besonders bewusst sein sollte: Seit der Romantik, die einen starken Nachdruck auf Originalität und individuelle Entwicklung gelegt hat, fühlt jeder Fachtheologe in sich die Nötigung irgend etwas Neues zu entdecken und zu veröffentlichen. In vielen Fällen führt dieses Streben nach Originalität dann aber zu häretischen Äußerungen und mitunter sogar zu häretischen Gesamtkonzepten der Theologie. Im Missionsbefehl erwartet der Herr jedoch einzig von uns, dass wir das lehren, was er gelehrt hat, und nicht unsere eigenen modernen Ideen. Aus diesem Grund muss evangelikale Theologie konservativ bleiben und wachsam den ursprünglichen christlichen Glauben festhalten.
Das konservative Festhalten an der biblischen Wahrheit des ursprünglichen christlichen Glaubens führt nun keineswegs in die Erstarrung. Wenn der Theologe in der geistlichen Bewegung des Heiligen Geistes bleibt und voran geht, um die Unerreichten zu erreichen, werden sich ihm immer wieder neue Herausforderungen sowohl für das Denken als auch für die Intuition stellen. Denn die missionarische Kontextualisierung des Evangeliums einerseits und die apologetische Konfrontation mit neuen Ideologien, Religionen und Philosophien andererseits stellt an den Theologen jeder Generation neu die Herausforderung nicht nur von ganzem Herzen und Gemüt, sondern auch mit allem intellektuellen Einsatz Christus zu dienen.
Ein guter Theologe ringt in der verantwortlichen Position des Lehrers mit allen Anfechtungen seines Zeitalters und bemüht sich in enger Verbindung mit seinen Mitchristen darum, aktuelle Antworten aus der Bibel heraus zu entwickeln. Gelehrte, die sich nur hinter Klostermauern oder den Betonbauten moderner Universitäten verstecken, sind oft unfähig, die wirklich bedeutenden Fragen im täglichen Leben der Kirche aufzuarbeiten. Das Gegenteil zu solcher Wissenschaft im Elfenbeinturm lässt sich sehr deutlich am Leben jener Theologen darstellen, die als lebendige Glieder ihrer Kirche die Bedürfnisse und Probleme der Gemeinden miterlebt und erlitten haben. Sie haben in ihren Lehrveranstaltungen und durch ihr Schrifttum einen fruchtbaren Dienst getan. Paulus war z.B. ein so hervorragender Theologe, weil er ein so hingegebener Missionar war. Man könnte auch auf den Bischof von Hippo, Aurelius Augustinus verweisen oder auf die gewaltige Wirkung der Reformatoren. Männer wie John Wesley oder heutige Theologen wie John Stott könnten als aktuelle Beispiele angeführt werden.
Deshalb sollten sich Evangelisten, Pastoren und Theologen nicht als Gegner gegenüber stehen, sondern gegenseitigen Austausch pflegen. Evangelisten und Pastoren brauchen von Zeit zu Zeit eine intellektuelle Vertiefung in der Lehre, um neue Kenntnisse für ihren Dienst zu erwerben. Andererseits sollten Fachtheologen gelegentlich mit Evangelisten und Pastoren an der Gemeindebasis neue Erfahrungen dazu machen, wie der Missionsbefehl heute erfüllt werden kann. Auf diese Weise sollten sie sich durch ihren gegenseitigen Dienst helfen, miteinander die gesamte Kirche aufzubauen. Ständiger Kontakt zwischen Theologen, Evangelisten und Pastoren hilft den Theologen in ihrer theologischen Ausbildung sehr genau zwischen spezifischen Forschungsprojekten einerseits und jenen Lehrinhalten andererseits zu unterscheiden, die jeder Theologiestudent notwendiger Weise studieren müsste, um für seine spätere Aufgabe gerüstet zu sein. Die Fachtheologen würden dann besser erkennen, welche Forschungsprojekte sinnvoll sind und zu der Hoffnung Anlass geben, sich fruchtbar im Dienst von Evangelisten und Pastoren auszuwirken.
Die Zukunft der evangelikalen Theologie liegt deshalb in der unlösbaren Verbindung von gründlichem biblischem Denken und der Fähigkeit diese Erkenntnis in verschiedenen Situationen der Kirche sachgemäß anzuwenden.
Wegen der grundverschiedenen Situationen der Menschen, die mit dem Evangelium erreicht werden sollten, besteht auch die Notwendigkeit unterschiedlicher missiologischer Strategien bei der Unterweisung im Evangelium. Es handelt sich hierbei um einen Prozess christlicher Unterweisung, der mit der elementaren Wahrheit über die Erlösung beginnt, und fortschreitend jeden Christen in die volle Erkenntnis, die Gott für uns bereit hat, hineinführen soll. Deshalb gilt es zwischen dem spezifischen Beitrag des Evangelisten, des Pastors und des theologischen Lehrers zu differenzieren.
Aber ein Evangelist oder Pastor kann nur dann andere lehren, wenn er seinerseits vorher zum Jünger gemacht und gelehrt worden ist. Und an dieser Stelle liegt die entscheidende Aufgabe der Lehrer im tieferen Sinne des Amtes Theologe. Theologen sollten in ihrer Forschung und Lehre vor allem darauf achten, wie sie die christliche Kirche der nächsten Generation mit gründlich ausgebildeten Evangelisten und Lehrern versorgen.
Auf dieser Feststellung ist deshalb so nachdrücklich zu bestehen, weil es eine fortgesetzte Versuchung in aller theologischen Ausbildung gibt, nicht Evangelisten und Pastoren auszubilden, sondern lediglich Theologen für eine neuerliche akademische Karriere zu reproduzieren. Dabei soll keinesfalls die Bedeutung der intellektuellen Ausbildung für einen christlichen Mitarbeiter in Frage gestellt werden. Die intellektuelle Aufgabe der Apologetik ist jedoch kein akademischer Selbstzweck, sondern dient dem Ziel, den Glauben zu verteidigen und die Verkündigung des Evangeliums durch eine gründliche Argumentation in sich wandelnden zeitgeschichtlichen Situationen festzuhalten. Das Erfordernis der missionarischen Kontextualisierung des Evangeliums in verschiedene kulturelle Situationen hinein erfordert eine solide theologische Ausbildung.
Die evangelikale Theologie ist in ihrem apologetischen Bemühen nicht an irgend eine der vorgeprägten Formen der christlichen Theologie gebunden, sondern nimmt Erkenntnisse und Erfahrungen von verschiedenen christlichen Traditionen auf und prüft sie im Licht der Schrift. In diesem Sinne ist evangelikale Theologie ökumenische Theologie mit einem weiten Horizont der Freiheit, alles zu prüfen und das Beste zu behalten.
Evangelikale Theologie sollte also durch diese beiden dynamischen Dimensionen geprägt sein: nämlich zum einen in die biblische Tiefe vorzudringen, um in der Lage zu sein alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, zu zerstören und alles Denken in den Gehorsam gegen Christus gefangen zu nehmen (vgl. 2 Kor 10,5); sie muss zum anderen von jener Ruhelosigkeit eines Botschafters, der eine dringende Botschaft mitzuteilen hat, bestimmt sein. Es ist eine geistliche Tatsache, dass jede wirkliche christliche Theologie zur Mission hinführt; denn derselbe Heilige Geist der einen Theologen bei seiner Arbeit der Forschung und Lehre führt und erleuchtet, treibt ihn auch dazu, die unerfüllte Aufgabe der Weltevangelisation wahrzunehmen.
Herzlich danke ich Ihnen namens des AfeT-Vorstandes für Ihre Unterstützung und Ihr Mittragen in den zurückliegenden fünfundzwanzig Jahren.
Ihr
aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 8/2 (2002) Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie |
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14.05.2003 |