Rolf Hille: Editorial ETM 9/1 (2003)

Liebe Freunde,

sind die Evangelikalen heute theologiemüde? Bringt die Theologie nicht tatsächlich mehr Probleme, als sie löst? Hilft es der Deutschen Evangelischen Allianz wirklich, einen Arbeitskreis für evangelikale Theologie zu haben? Diese durchaus virulenten Fragen erörterten der Vorstand des AfeT und der Geschäftsführende Vorstand (GV) der DEA bei einer ersten gemeinsamen Sitzung. Lassen Sie mich, liebe Freunde, im ersten Heft von „Evangelikale Theologie“ diesen Fragen, die uns als AfeT in unserer Arbeit unmittelbar betreffen, etwas nachgehen. Ich möchte dieses Editorial deshalb unter das Thema stellen:

Das spannungsreiche Verhältnis von evangelikaler Theologie und evangelikaler Bewegung

Rolf Hille1. Zwei historische Traumata der Evangelikalen in der Begegnung mit der Theologie

Die evangelikale Bewegung in Deutschland geht wesentlich auf den Pietismus des 18. Jahrhunderts und auf die – sowohl landeskirchlich wie auch freikirchlich geprägte – Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Beide kirchengeschichtlichen Epochen hatten jeweils schmerzliche Zusammenstöße mit der herrschenden akademischen Theologie. Der Pietismus musste sich mit den festgefügten konfessionellen Positionen der lutherischen bzw. reformierten Orthodoxie auseinandersetzen. Die Erweckungsbewegung befand sich in harter Konfrontation mit der Aufklärung und dem theologischen Rationalismus. Weil diese beiden fundamentalen Konfrontationen der evangelikalen Großväter und Urgroßväter mit der Theologie tief verletzend waren, hat sich in der weiteren Geschichte der Evangelikalen rasch eine ausgeprägte Abneigung gegen wissenschaftliche Theologie herausgebildet.

2. Drei Probleme, die evangelikale Praktiker mit der „eigenen“ evangelikalen Theologie haben

Zunächst das Sachproblem. Theologie hat die Glaubensinhalte mittels der an die Schrift gebundenen Vernunft zu reflektieren und mitunter auch zu analysieren. Ziel ist dabei nicht zuletzt, die Unterscheidung der Geister zu vollziehen, also die Diakrisis toon pneumatoon wahrzunehmen. Es geht dabei immer neu um die Trennung von Lehre und Irrlehre. Evangelikale Allianz aber ist von ihrem Wesen und Auftrag her der Einheit der Glaubenden verpflichtet. Die allzu präzisen theologischen Gegensätze wirken dabei häufig eher kontraproduktiv.

Sodann das Sprachproblem. Theologie muss als Wissenschaft komplexe Sachverhalte differenziert zur Sprache bringen. Der Stil solcher Abhandlungen erscheint dem „Laien“ oft schwer verständlich, fremd und mitunter sogar verfremdend. Demgegenüber sucht die Evangelisation zu elementarisieren, den Hörer bei seinen Alltagsfragen abzuholen und schlicht „den Menschen auf dem Marktplatz auf’s Maul zu schauen“ (Luther). Theologen – auch evangelikale – und die Gläubigen an der Gemeindebasis scheinen oft aus unterschiedlichen (Sprach)welten zu stammen. Und das macht die Verständigung mitunter schwierig.

Schließlich das Problem „Arbeitsstil“. Evangelikale Praktiker drängen mit guten Gründen auf rasche und effektive Umsetzung theologischer Einsichten in die Praxis. Sie haben eine konkrete Anfrage zu beantworten, eine spezielle Aufgabe zu erledigen oder einen schwelenden Konflikt zu lösen – und das so schnell wie möglich, weil morgen bereits wieder eine neue dringende Herausforderung wartet. Die Theologen, die angesichts solcher Probleme gelegentlich um Rat und Hilfe angefragt werden, wollen aber die Fragen möglichst grundsätzlich klären und brauchen deshalb Zeit, manchmal sogar viel Zeit, um die angemessene, abgesicherte, solide und wissenschaftlich differenzierte Antwort zu geben. Am Ende eines solchen schwierigen Bemühens sind gelegentlich beide Seiten frustriert. Die einen, weil sie nicht so lange warten können, und die andern, weil ihnen bei einem „Schnellschuss“ nicht wohl ist.

3. Dennoch: die evangelikale Bewegung braucht die evangelikale Theologie – und umgekehrt!

Für diese notwendige Beziehung zwischen Theologie und Gemeindebewegung gibt es zwei elementare Gründe. Zum einen ist die evangelikale Bewegung vor allem eine Missionsbewegung; sie stellt sich bewusst unter den Missionsbefehl ihres Herrn. Aber eben dieser Befehl schließt expressis verbis den Lehrauftrag ein: „Gehet hin … und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ (Mt 28,20). Christliche Lehre ist aber ohne gründliche Theologie nicht zu haben.

Zum anderen gehört zur Heiligung des Lebens auch die Bekehrung des Denkens. Nicht nur das Herz, auch der Kopf bedarf der Wiedergeburt. Die Vernunft soll mit allen ihren Erwägungen, Beurteilungen und kritischen Gedanken gefangen genommen werden unter den Gehorsam Christi (vgl. 2Kor 10,5). „Theologie ist Dienst für Jesus“ hat der erste Vorsitzende des AfeT, Dr. Helmut Burckhardt, immer wieder betont. Die evangelische Allianz braucht im Blick auf die Gestaltung des geistlichen Lebens, für die sachgemäße Schriftauslegung, für die dogmatische und ethische Orientierung, für die geistige Auseinandersetzung in Mission und Evangelisation, für die Gespräche mit Christen unterschiedlicher konfessioneller Prägung und für das gesellschaftliche Engagement den Dienst einer guten biblisch verankerten Theologie.

4. Als Fazit: Drei praktische Konsequenzen für die Zusammenarbeit

Evangelische Allianz und AfeT bedürfen der gegenseitigen Unterstützung und vertrauensvollen Kooperation. Damit diese gelingt, möchte ich hier drei konkrete Angebote seitens des AfeT vorschlagen:

a) Aktuell sind Theologen des AfeT bereit, sich durch Vorträge und schriftliche Beiträge in Gremien der Allianz und an der Gemeindebasis einzubringen. Diese Dienste sollen kurzfristig sowohl auf brennende Probleme und Herausforderungen eingehen als auch der denkerischen Klärung und Vertiefung von Glaubensfragen dienen.

b) Dann kann der AfeT der Allianz auch bei der Lösung mittelfristiger Probleme und Aufgaben unmittelbar helfen. Ein gutes und m. E. gelungenes Beispiel hierfür ist die Diskussion zwischen dem Hauptvorstand der DEA und dem Bund Freier Pfingstgemeinden gewesen, die die Vereinbarung von Kassel möglich machte. In einem sich über zwei Jahre erstreckenden Gesprächsprozess konnten unter Mithilfe des AfeT grundlegende Unterschiede erörtert und von der Bibel her geklärt werden; und zwar ohne dabei die noch bestehenden Differenzen im Blick auf Lehre und Frömmigkeitsformen auszublenden. In einer speziell für dieses Thema gebildeten Arbeitsgruppe des AfeT wurden damals strittige Fragen in Fachreferaten sowohl von Pfingstlern wie von Allianzvertretern dargestellt. Diese Beiträge wurden dann auch als idea-Dokumentation veröffentlicht. Sie sind schließlich in das Gesamtergebnis der Kassler Vereinbarung eingegangen.

Solche theologischen Vorarbeiten des AfeT für die Allianz hat es auch später immer wieder gegeben; und sie sollen in Zukunft noch häufiger in Anspruch genommen werden.

c) Schließlich gibt es einen langfristigen Dienst des AfeT, der in der Regel von der Öffentlichkeit wenig beachtet wird, der aber als nachhaltige Arbeit – gleichsam im Hintergrund – für die evangelikale Bewegung nötig ist. Hier geht es um das kontinuierliche Engagement in Gestalt theologischer Ausbildung und literarischer Beiträge zu Forschung und Lehre. Der AfeT hat sich das langfristige Ziel gesteckt, zur „Erneuerung der Theologie von der Bibel her“ beizutragen. Wenn dies auch nur in Ansätzen gelingt, ist viel gewonnen. Werden künftige Evangelisten und Pastoren, Jugendarbeiter und Missionare durch biblische Theologie solide für ihren hauptamtlichen Dienst vorbereitet, dann bringt dies Früchte; selbst wenn diese erst von der nächsten Generation geerntet werden können. Aber diesen langen Atem der Hoffnung brauchen wir in der evangelikalen Bewegung.

Sehr herzlich möchte ich Sie, liebe Freunde des AfeT, noch zu unserer Studienkonferenz vom 14. bis 17. September 2004 nach Bad Blankenburg einladen. Bei dieser Tagung wird es um das biblische Menschenbild gehen. Was ist die schöpfungsgemäße Würde und Bestimmung des Menschen? Was bedeutet dies für Fragen der medizinischen Ethik und Gentechnologie? Welches ewige heilsgeschichtliche Ziel verfolgt Gott mit dem Menschen? Wie verhält sich das biblische Menschenbild zu philosophischen, religiösen oder ideologischen Menschenbildern der Gegenwart? Solche grundlegenden Themen theologischer Anthropologie sollen im Allianzhaus in Bad Blankenburg gemeinsam bedacht werden. Bitte beachten Sie das Programm, das in diesem Heft vorgestellt wird.

Es freut mich, wenn ich viele von Ihnen im September in Bad Blankenburg treffen kann.

Haben Sie herzlichen Dank für alle Mitarbeit bei unseren Facharbeitsgruppen und den Publikationen des AfeT.

Mit ganz herzlichem Gruß aus Tübingen

Ihr(gez. Rolf Hille)

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 9/1 (2003)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie

01.06.2003