Hermeneutik und Theodizee

Das Treffen der Facharbeitsgruppe Systematische Theologie

Christian Herrmann

Am 31.1. und 1.2.2003 traf sich die Facharbeitsgruppe Systematische Theologie im Theologischen Seminar Tabor in Marburg. Die Teilnehmerzahl schwankte stark (zwischen 6 und 14), da zeitweise Studenten von Tabor und von der FTA in Gießen zu der Tagung hinzustießen, andere wiederum früher abreisen mussten. Das schlechte Wetter und Terminüberschneidungen führten dazu, dass manche trotz eines starken thematischen Interesses nicht kommen konnten. Man wird künftig Termin und Ort noch besser abstimmen müssen. Trotzdem war die Tagung nicht schlecht besucht.

Hermeneutik-Diskussion

Das geplante Themenbuch soll in drei Abschnitten die gegenwärtig in der evangelikalen Theologie diskutierten Entwürfe einer biblischen Hermeneutik andeuten. Zwei der Ansätze wurden in einer ausführlicheren Form bei der Tagung vorgetragen und detailliert diskutiert. Prof. Dr. Thomas Schirrmacher, Bonn, beleuchtete v. a. die historischen und konfessionellen Hintergründe der Chicago-Erklärung. Diese wendet sich nicht nur gegen die historisch-kritische Forschung, sondern auch gegen die Ablehnung wissenschaftlicher Bibelforschung durch viele Laien in den USA (oft wird die King-James-Version für den Urtext gehalten). Der Text nimmt Anliegen aus dem Calvinismus und aus der dispensationalistischen Brüderbewegung auf. In Calvins „Institutio“ begegnet die Schrift primär als Erkenntnismittel und bei den Reformierten ist ein bestimmtes Schriftverständnis Gegenstand des Ordinationsgelübdes. Die ausgefeilte Schriftlehre der lutherischen Orthodoxie ist vom Calvinismus beeinflusst. Mit Calvin kam ein individualistischer Zug in die Hermeneutik: jeder legt die Schrift selber aus; der Heilige Geist bestätigt dem einzelnen Christen, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Eine die individuelle Exegese in ihren Auswüchsen bremsende Instanz gibt es nicht; das hat zu zahlreichen Spaltungen im reformierten Bereich geführt. Für Calvin ist die Schrit die Brille, durch die man die Welt sieht; alle Lebensbereiche sind von der Schrift her bestimmt. Die Chicago-Erklärung geht auch vom Schriftgebrauch Jesu aus. Jesus zitiert atl. Texte als Wort Gottes und geht vom tatsächlichen Geschehensein des im AT Berichteten aus. Bei der Exegese geht es um die Frage, was der Text historisch sagen wollte. Gott ist nur über seine Offenbarung zugänglich und schwört bei sich selbst, verlangt Glauben. Die Eigenschaften Gottes werden auf die Schrift übertragen. Glauben an Gott wird möglich durch ein Vertrauen der Bibel gegenüber, da diese wie Gott selbst glaubwürdig ist. Menschliche Erkenntnismittel sind zulässig und notwendig, da die Offenbarung in menschlicher Form geschieht. Im Unterschied zum Koran wird bei der Bibel die menschliche Seite eingeschaltet. Die Bibel entsteht geschichtlich und unter Nutzung vieler Textgattungen und menschlicher Charaktere. Textkritik als Suche nach dem ursprünglichen Text ist bei der Bibel notwendig, beim Koran als einer vom Himmel gefallene Größe dagegen ausgeschlossen. Es geht darum, vertrauenswürdig zu sehen, was dasteht; die Exegese hat einen Vorrang vor der Dogmatik. Manche Streitigkeiten entstehen weniger durch Differenzen in der Schriftlehre an sich als durch Abweichungen in den Ergebnissen der Exegese, die als Folge eines anderen Schriftverständnisses betrachtet werden.

Clemens Hägele, Dortmund, führte in die hermeneutischen Anliegen Adolf Schlatters ein. Auffällig ist, dass Schlatter keinen eigenständigen Prolegomena-Abschnitt verfasst, sondern das Schriftverständnis im Rahmen der Soteriologie entfaltet. Die Schrift ist vorrangig ein Gnadenmittel und erst als solches dann auch ein Erkenntnismittel. Von Luther herkommend geht es v. a. um die Überführung als Sünder und die Zueignung des Heils, also um einen heilsgeschichtlichen, nicht einen intellektualistischen Vorgang. Die Schrift ist nicht nur Information, sondern wirkmächtige Zusage. Diese Wirksamkeit der Schrift zeigt, dass sie nicht nur aus der Geschichte stammt, sondern auch wieder Geschichte schafft. Es gibt Abstufungen in der Wichtigkeit der Schriftinhalte im Bezug auf den Heilsvorgang; die Schrift bietet kein geschlossenes Begriffssystem und ihre Einheit ist nicht flächig zu denken. Aber Schlatter lehnt im Unterschied zu J. T. Beck eine Abstufung in der Inspiration ab. Gegen einen Biblizismus im Sinne einer blinden Unterwerfung fordert Schlatter eine aktive Aneignung der Schrift (in Betonung der Aktivität reformiertes Erbe). Die Unfehlbarkeit der Schrift gilt nur in abgeleiteter Weise und zeigt sich in ihrer soteriologischen Kompetenz. In der Exegese betont Schlatter das historisch-philologisch-analytische Verfahren, die Wahrnehmung des Textbestandes (Wortstatistik!). Die Aneignung des Gegebenen geschieht in der dogmatischen Arbeit.

In der Diskussion wurde das soteriologische Interesse der These von der Irrtumslosigkeit der Schrift in historischen und naturwissenschaftlichen Aussagen herausgestellt. Wenn irgendwo ein Fehler entdeckt wird, droht das ganze System mitsamt der eigentlich theologisch relevanten Inhalte zusammenzubrechen. Zur Vermittlung könnte man sich an Gerhard Maier anschließen, der nach dem Prinzip des „in dubio pro reo“ verfährt: eine Sachkritik wird abgelehnt und dort, wo keine Klarheit oder Eindeutigkeit besteht, sollte man auf eine bessere Beweislage warten, bevor man ein Urteil abgibt. Das Problem der Formulierung von „fundamentals“ ist, dass irgendwann alle biblischen Inhalte als fundamental betrachtet werden, weil die Bibel selbst ein „fundamental“ ist. Der Artikel 13 der Chicago-Erklärung war zwar von vorneherein geplant und ist nicht nur ein Zugeständnis an die Betonung der Geschichtlichkeit der Schrift. Von der Akzentuierung der Ganzheit (Flächigkeit) her (Art. 6) ist die Frage, ab wann der Domino-Effekt eintritt. Besonders im Blick auf das AT ist die Unterschiedlichkeit der Sprachkulturen zu bedenken (z. B. Rundungen bei Zahlenangaben üblich). Die Bibel hat jedenfalls nicht die Absicht, historisch Unglaubwürdiges zu berichten. Der Bezug auf die Autographen wendet sich gegen wilde Übersetzungen, hat aber das Problem, dass uns die Autographen nicht vorliegen („Betriebsunfall der Heilsgeschichte?“). Die Ablösung vom gegenwärtigen Wirken des Heiligen Geistes durch die Schrift kann dazu führen, dass eine Bibelübersetzung bei der Predigt nicht als Wort Gottes angesprochen und verkündet werden kann. Man kann von der Bibel andere Denkweisen als den modernen Rekurs auf empirisch verifizierbare Fakten lernen (z. B. kein Problem mit abweichenden Parallelüberlieferungen). Eine andere Frage ist, ob sich der Mensch mit Art. 13 ein Urteil über die Schrift anmaßt und sich selbst über die Schrift stellt (Betonung der Kondeszendenz Gottes und der Demut des Menschen bei Hamann und Hempelmann [dritter Beitrag für Themenbuch]). Geschichte muss nicht als Relativierung (Historismus), sondern kann auch als von Gott definierte und ausgefüllte Zeit verstanden werden (Koh 3). Gemeinsam ist allen Evangelikalen der vertrauensvolle und gehorsame Umgang mit der Schrift, das Rechnen mit dem Reden Gottes durch sie. Möglicherweise ist der positive Begriff der Glaubwürdigkeit besser geeignet als der negative der Irrtumslosigkeit, um das Gemeinte zum Ausdruck zu bringen.

Theodizeeproblem

Rektor Dr. Rolf Hille, Tübingen, zeigte einige Weichenstellungen im Umgang mit dem Theodizeeproblem auf. In der Moderne wird die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes wegen dessen vermeintlicher Nichtexistenz in eine Anthropodizee umgewandelt. Der griechisch-idealistischen Depotenzierung des Übels durch einen metaphysisch-ontologischen Dualismus steht dessen Radikalisierung im jüdisch-christlichen Bereich gegenüber (Ausgangspunkt beim Gottesverhältnis). Mit Leibniz ist die Frage zu stellen: „Etsi deus non est, unde bonum?“. In der Moderne definiert sich der Mensch mehr von seinen Rechten als von seinen Pflichten her, woraus ein Anspruchsdenken folgt. Dem entspricht, dass oft von der Güte und Allmacht Gottes abgesehen von seiner Heiligkeit gesprochen wird. Primär muss dagegen nach der Schuld des Menschen gefragt werden. Glückserfahrungen (auch im verheißenen Millennium) immunisieren den Menschen keineswegs gegen den Abfall von Gott. Angesichts der Verfolgung kann die Theodizeefrage innerchristlich im Sinne eine „Wie lange noch?“ gestellt werden. Die Psalmen zeigen, dass man vor Gott klagen darf. Gott ist kein apathischer, sondern ein mitleidender Gott (gegen Kismetgedanke im Islam und Verwerfung der Glücksuche im Buddhismus). Gott in Christus (Kreuz!) ist die einzige befriedigende Problemlösung. Seelsorglich sollte stets eine Solidarisierung mit dem Fragenden am Anfang stehen; von dorther kann es zum Bekenntnis des Dennoch kommen (Gott als richtige Adresse und Notwender). Ein Problem für Christen, mehr noch für Juden (rein positive Messiasauffassung) ist die Verzögerung der Erfüllung von Verheißungen Gottes, evtl. zur Gewährung einer Gnadenzeit für die Mission.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 9/1 (2003)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie

31.05.2003