Landesbischof Prof. Dr. Gerhard Maier
Für das 25jährige Jubiläum des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, einem Arbeitskreis der Deutschen Evangelischen Allianz, hätten sich auch andere Themen angeboten. Man hätte die Geschichte dieser 25 Jahre Revue passieren lassen können. Man hätte das Programm von damals und die Situation von heute miteinander abgleichen können. Dennoch scheint es mir angemessen, dass wir uns angesichts dieses Jubiläums gemeinsam vergewissern und gemeinsam an einen Programmentwurf gehen, der uns auch tragen könnte in die kommende Zeit hinein – auch wenn ein solcher Entwurf natürlich nur bestimmte Sektoren anschneiden kann.
Gemeinsam glauben – Miteinander Forschen: unter diesem Thema möchte ich drei Fragen aufgreifen. Zuerst die Frage nach der Möglichkeit eines evangelischen Konsenses, dann die Frage nach dem, was evangelikale Theologie meinen und bedeuten kann, und schließlich die Frage nach Sinn und Ziel theologischer Forschung.
Zuerst ist die Frage zu stellen: Gibt es überhaupt einen christlichen Konsens? Solange es christliche Religionskonflikte gibt, weil ein Mönch bei der Grabeskirche seinen Stuhl aus der Sonne in den Schatten rückt, scheint das unmöglich. Bis heute wird trotz aller schönen Konferenzresolutionen immer noch Hass zwischen den Konfessionen gepredigt. Christlicher Konsens? Nicht wenige Zeitgenossen bringt dies zu einem mokanten Lächeln. Allerdings gibt es diesen Konsens, und er lässt sich in der Geschichte festmachen.
Das grundlegende „Konsenspapier“ bleibt das Neue Testament selbst. Die Versuche Marcions und seiner Nachfolger, das Neue Testament anders und „reiner“ zu redigieren, sind gescheitert. Der Sturmlauf gegen die Johannesapokalypse ausgerechnet in ihrer Herkunftsregion, dem griechischen Osten des Imperiums, scheiterte ebenso. Luther selbst korrigierte seine Urteile über die vier „Anhangs“-bücher seines Septembertestaments im Laufe seines Lebens und benutzte nach Graf-Stuhlhofer den Jakobusbrief „beinahe“ mit derselben relativen Intensität wie die Evangelien.1 Mag man das Neue Testament paulinisch-protestantisch oder petrinisch-römisch lesen, es bleibt das geschlossene und definitive Dokument der Christenheit und insofern sichtbarer Ausdruck eines christlichen Grundkonsenses.
Wenn man von einem christlichen Konsens spricht, dann müssen neben dem Neuen Testament die altkirchlichen Bekenntnisse erwähnt werden. Das Nicaenum, das Athanasianum, das Apostolicum haben nicht nur das Schisma zwischen Rom und Ostrom im Jahre 1054 überdauert, sondern sind beispielsweise in der Confessio Augustana ausdrücklich unter die Bekenntnisse der Reformation eingereiht worden. Freilich bleibt die Frage offen, bis wohin die anerkannten ökumenischen Konzilsbeschlüsse reichen. Und uns Protestanten bleibt das Lutherwort2 im Ohr, dass auch Konzilien irren können. Dennoch darf der konkrete Grundkonsens, der in den altchristlichen Bekenntnissen erreicht wurde, nicht übersehen werden.
Muss die Frage nach der Möglichkeit eines christlichen Konsenses also bejaht werden, geraten wir bei der Frage nach der Möglichkeit eines evangelischen Konsenses zunehmend in schwierigere Gewässer. Die letzte Debatte in den bibeltreuen Ausbildungsstätten ist dafür signifikant.
Ein zahlenmäßig etwa 85 Prozent der Christenheit umfassendes Spektrum kennt ein institutionalisiertes, die Konzilien sozusagen fortsetzendes Lehramt.
Die reformatorischen Kirchen hingegen, überzeugt, dass die Gemeinde über Lehre zu urteilen habe, brachen aus dieser Kontinuität aus. Zwar gab es durchaus noch konziliare Formen, sogar mit markanten Ergebnissen beispielsweise in Gestalt der Formula Concordiae für den Bereich der Lutheraner. Man beschwor auch einen magnus consensus, verzichtete allerdings auf dessen genaue Bestimmung und konkrete Gestalt. Es kam zu Einzelerklärungen wie dem Londoner Bekenntnis der Evangelischen Allianz, der Pariser Basis oder der Chikago-Erklärung. Allein dies waren Erklärungen von Personen und von durch diese Personen vertretenen Einrichtungen, aber eine Verbindung zu Kirchen war jenseits dieser personalen Bezüge nicht immer zu erkennen. Es fehlte gewissermaßen die ekklesiologische Gestalt. Dies trifft sogar auf die Theologische Erklärung von Barmen zu.
Die nächsten Jahrzehnte werden menschlicher Voraussicht nach christologische und ekklesiologische Debatten bringen. Dabei wird auch eine Entscheidung darüber anstehen, was evangelisches Lehramt bedeutet. Man kann es – theoretisch – dem einzelnen Christen überlassen, was er glauben will und soll. Dies hat dann zwei unausweichliche Konsequenzen: Erstens wird das Gemeindeleben von wechselnden Mehrheiten und Meinungen bestimmt, die alle zusammen nur Gemeinde auf Zeit begründen. Zweitens wird die Grenze zwischen der Christenheit und anderen Religionen fließend, unbestimmbar und durchlässig werden. Oder man kann das evangelische Lehramt den einzelnen örtlichen oder milieugeprägten Gemeinden zuweisen. Die Folge wird sein, dass sich widersprechende Gemeinden auf engstem Raum nebeneinander stehen. Das wäre das Ende regionaler oder territorialer Kirchen. Oder man kann das Lehramt als Aufgabe von Kirchen begreifen. Sie könnten inmitten aller Wirrnisse, sozusagen „Confusione hominum, providentia Dei“ auf der Basis des Wortes und unter der Leitung des Heiligen Geistes ein Kontinuum für den gegenwärtigen Christus und seinen Leib auf Erden anschaulich machen, irrtumsfähig und keineswegs als letzte Instanz, aber doch nicht verlassen von der Wahrheit,ja sogar der Wahrheit dienend. Ich bin gespannt, was der Arbeitskreis für evangelikale Theologie zu einem evangelischen Konsens in den nächsten Jahren beitragen wird.
Zwar kann man zwischen „liberalen“ und „evangelikalen“ Kirchen unterscheiden, aber doch nicht in dem Sinne, dass es um ihre charakteristische Bekenntnisgestalt oder ihre langjährige historische Existenz ginge, sondern im Sinne ihrer geistlichen und theologischen Prägung.
Dementsprechend fragen wir hier nicht nach evangelikaler Kirche, sondern nach evangelikaler Theologie.
Die grundlegende Basis der Evangelischen Allianz von 1846 trug deshalb mit Fug und Recht den Titel Doctrinal Basis! Im deutschen, von Hans Steubing3 abgedruckten Text heißt es: „Es wird … ausdrücklich erklärt, dass diese kurze Zusammenfassung keineswegs in irgendeinem formalen oder kirchlichen Sinn als Glaubensbekenntnis oder Konfession verstanden werden darf“, und später: „Es wird nicht beabsichtigt, dass diese Allianz den Charakter einer neuen kirchlichen Organisation annimmt oder anstrebt, indem sie beansprucht, in irgendeiner Weise die Funktionen einer christlichen Kirche auszuüben.“
Evangelikale Theologie erwächst demnach auf dem Boden evangelischer Kirchen und evangelischer Theologie, und zwar durchaus legitim. Sie tritt für evangelische Dogmen und – was der Titel nicht sofort vermuten lässt – für evangelisches Glaubensleben ein. Sie hilft mit bei der Abklärung dessen, was evangelisch heißt, und – gestatten Sie mir, es so zu formulieren – ist desto evangelikaler, je mehr sie evangelisch ist.
Was ist nun das Charakteristische an einer evangelikalen Theologie?
Hier wird sich manches berühren mit dem, was in der Einleitung gesagt wurde. Sehe ich es recht, so fängt dieses Charakteristische dort an, wo es um die Bedeutung des Glaubens für die Theologie geht. Denken Sie zurück an die hermeneutischen Debatten der 70er und 80er Jahre. Ein gut Teil dieser Debatten kreiste doch um die Frage, ob man den Glauben gewissermaßen an der Garderobe der Fakultäten abzugeben habe, um angeblich „vorurteilsfrei“ zu forschen. Heute ist längst klar, dass es ein voraussetzungsloses oder vorurteilsfreies Forschen nicht gibt. Wissenschaftlich verantwortlich handelt derjenige, der seine Vorurteile und Voraussetzungen offen auf den Tisch legt. Man kann dies im Sinne der Skepsis tun, so wie es im „Arbeitsbuch zum Neuen Testament“ von Conzelmann-Lindemann formuliert wird: „Ausgangspunkt der modernen, exegetischen Arbeit am Neuen Testament ist zunächst ganz allgemein der wissenschaftliche Zweifel.“4 Man kann dies aber auch im Sinne des Glaubens tun, wie es einst Martin Luther formulierte: „Der Glaube selbst verwandelt den Sinn und führt zur Erkenntnis des Willens Gottes.“5 Es ist also das Charakteristische einer evangelikalen Theologie, dass sie mit größtmöglicher Offenheit vom Glauben ausgeht, sich darin ernsthaft befragen lässt und von dieser Voraussetzung her Theologie treibt.
Charakteristisch ist aber auch, dass sie ihre Arbeit bewusst in die Gemeinde einordnet. Und zwar so, dass Theologinnen und Theologen als Glieder der Gemeinde leben, zu der sie gehören. Zu den interessantesten Entwicklungen der Jetztzeit zählt, jedenfalls in meinen Augen, dass die Fakultäten ganz neu die Verortung in den Kirchen suchen. Es wird plötzlich wieder klar, dass das Schicksal der Fakultäten am Schicksal der Kirchen hängt. Das entsprechende Bewusstsein hat die evangelikale Theologie stets wachgehalten. Das Grundmuster einer solchen Haltung finden wir schon in Bengels berühmtem Wortspiel: „Te totum applica ad textum, rem totam applica ad te“ (Wende dich ganz dem Text zu, die ganze Sache wende auf dich an).6 Warum geschah das? Weil man erkannte, dass die Erfurcht vor dem Wort nicht nur intellektuell, sondern mit der ganzen Existenz ausgedrückt werden muss.
In diesem Zusammenhang begegnet öfters die Forderung, der Heilige Geist müsse bei der theologischen Arbeit „zugelassen“ werden. Inwiefern? Was ist daran richtig? Welchen Sinn hat der Begriff „theologia regenitorum“? Mir persönlich war es immer wichtig, dass wir anthropozentrische Ansätze vermeiden und stattdessen pneumatozentrisch denken. Der Heilige Geist braucht keine „Zulassung“. Es gehört zu seinem Wesen, dass er unauffällig, aber unerhört schöpferisch wirkt. Natürlich auch außerhalb eines bewussten Glaubens, wie die Gestalt eines Bileam oder die Gestalt eines Achisch von Gat oder auch die Archive des Esrabuches zeigen. Der Heilige Geist will aber auch Menschen ergreifen. Sich ihm zu verweigern, z. B. durch Ablehnung des Glaubens, wäre Schuld. So führt der Heilige Geist auch Theologinnen und Theologen zum Dank für das empfangene Wort, zur Demut in der Gemeinde und zur Freude an der missionarischen Weitergabe der Botschaft. Er verschafft ihnen jedoch keine Irrtumslosigkeit, vielleicht nicht einmal ein Plus an Erkenntnis, und er macht sie auch nicht unwiderstehlich. Sie können sich in der theologischen Auseinandersetzung nur wehren, indem sie die Treue der Haushalterschaft nach 1Kor 4,2 bewähren und auf das Wort Gottes hinweisen, nicht aber indem sie auf die Überlegenheit ihrer Erkenntnis verweisen.
Damit klingt schon eine Seite dessen an, was als Nächstes zu sagen ist. Evangelikale Theologie ist der Versuch, Luthers Gedanken weiter zu führen, wonach die Schrift die „Königin“ sei. Wir sind nicht die Schöpfer eine neuen Schrift, sondern Ausleger und Verkündiger eines ewigen Evangeliums (Offb 14,6). Evangelikale Theologie bejaht die Frage, ob Luther recht hatte, als er 1539 in der Vorrede zum ersten Band seiner deutschen Schriften schrieb: „so gut werdens weder Konzilia, Väter noch wir machen, wenns auch aufs Höchste und Beste geraten kann, als die Heilige Schrift, das ist Gott selbst, gemacht hat, ob wir wohl auch den Heiligen Geist, Glauben, göttliche Rede und Werk haben müssen, so wir sollen selig werden, als die wir müssen die Propheten und Apostel lassen auf dem Pult sitzen und wir hienieden zu ihren Füßen hören, was sie sagen, und nicht sagen, was sie hören müssen.“ Aber Luther bot ja nicht nur einen theologischen Entwurf an, sondern er wurzelte im Neuen Testament, wo Jesus und Paulus die Fragen ihrer Zeit entschieden mit der Bemerkung „Habt ihr nie gelesen in der Schrift?“ (Mt 21,42) oder mit dem Hinweis „Die Schrift sagt“ (Röm 4,3). Die Haltung eines leicht amüsierten oder spöttisch-überlegenen Lächelns wenn Schrift zitiert wird, wollte sich evangelikale Theologie nicht zu eigen machen. Vielleicht war es ihre Gefahr, Probleme der Schrift auf eigenwillige Weise zu retuschieren. Dass Liebe retuschiert, ist ja nicht unbekannt. Aber war die Überzeugung falsch, dass es in der Schrift eine Harmonie gibt? Im großen und ganzen versuchte evangelikale Theologie immer wieder, Probleme wahrzunehmen, auszuhalten, sich dem Leiden an Problemen nicht zu entziehen und auch das zu benennen, was wir offen lassen müssen. Doch eines blieb ihre Überzeugung: dass der Glaube nur in der inspirierten Schrift eine verlässliche Wegweisung findet. In unseren Gottesdiensten werde ich derzeit überrascht durch manche Schriftlesungen, die mit den Worten enden: „Wort des lebendigen Gottes“. Aber das ist es ja, dass wir von Gott nur durch Jesus Christus und die Schrift etwas wissen, und dass hier Gott selbst redet. Schlatter formulierte diesen Tatbestand einst so: „Der Beweiswert der Schrift beruht darauf, dass sie uns Gottes Wort sagt, und weil es nichts anderes gibt, was uns Gott gegenwärtig und erkennbar macht als sein Wort, deshalb ist die Schrift das unersetzliche Beweismittel der Christenheit.“7 Wenn der Protestantismus es zuließe, dass das sola scriptura nur noch zum Formalprinzip oder zu einer lediglich historischen Definition würde, dann wäre es um ihn geschehen.
Mit der letzten Bemerkung haben wir das heutige Thema allerdings schon überschritten, weil sie ja nicht nur die evangelikale Theologie betrifft.
Gibt es – so kann man schließlich fragen – nicht eine Blickverengung durch den Glauben? Und folglich auch durch eine glaubensgemäße Exegese? Zweifellos. Es wäre völlig vergeblich zu leugnen, dass es in der evangelikalen Theologie auch gelegentliche Blickverengungen gegeben hat. Hier sahen andere theologische Strömungen manchmal schärfer und schneller. Aber es gibt auch eine Blickverengung durch den Nichtglauben! Und wenn der Glaube sich selbst und dem Wort treu bleibt, erlebt er es immer wieder, dass er aufgeweitet wird und in der Schrift etwas von der Herrlichkeit Gottes aufleuchten sieht.
Forschung wird oft mit der Forderung verbunden, Zukunftsaufgaben zu lösen. Dies ist verständlich und ich werde zu diesem Punkt noch einmal zurückkommen.
Zunächst aber ist zu sagen, dass theologische Forschung ein Dienst in und an der Gemeinde ist. Sie kann sich natürlich von der Gemeinde emanzipieren, wie es z. B. die Diakonie teilweise getan hat. Aber insofern es sich wirklich um theologische Forschung handelt (nicht religionsgeschichtliche!), wird sie ebenso sicher zu Gemeinde und Kirche zurückkehren wie ein Vogel zu seinem Nest. Versteht man sie als Dienst für die Gemeinde, dann sichert man ihr drei wesentliche Elemente: ihre Freiheit, ihre Korrigierbarkeit und ihren Austausch mit der Praxis des Glaubens.
Um bei letzterem noch einen Augenblick zu verweilen: Die theologische Forschung hat oft darunter gelitten, dass man von einer Generation zur anderen Forschungsprobleme weitergab statt Existenzprobleme der Gemeinde und des christlichen Glaubens. Wäre es nicht so gewesen, dann hätte die Frage z. B. nach den Quellen des Pentateuch niemals einen so breiten und erdrückenden Raum eingenommen, wie es tatsächlich der Fall gewesen ist. Die Frage der Herkunft des Deuteronomiums hätte dann niemals den Charakter eines wissenschaftlichen status confessionis angenommen. Was für eine Befreiung war es, als jüdische Forscher das Siglum R auflösten in „unsere Meister“! Was für ein Durchbruch, als Brevard Childs und andere den final shape betonten, den es zu exegesieren gelte! Und was für ein Schade, dass die theologische Vorbereitung und Aufarbeitung des interreligiösen Dialogs so lange vernachlässigt wurde!
Geht man von den Existenzproblemen der christlichen Gemeinde aus, dann finden endlich auch die Hypothesen der Forschung ihren richtigen Platz und ihre richtige Einordnung. Klar ist, dass keine Forschung ohne Hypothesen auskommt. Sie gleichen den Windlichtern, mit deren Hilfe man einen Pfad sucht. Aber sie sind nicht der Pfad. Das Einschwören auf Hypothesen hat theologisches Lagerdenken hervorgerufen. Es hat teilweise in die Freiheit von Dissertationen so stark eingegriffen, dass die Freiheit der Forschung auch von dieser Seite her in Gefahr geriet, und deutsche Professoren zum Teil in den Geruch kamen, eigene Thesen durch Dissertationen beweisen zu lassen, statt wie englische Professoren gerade den kritischen Test ihrer Thesen durch Dissertationen zu suchen. Hypothesen sind ihrem Wesen nach etwas Vorläufiges. Sie kommen und gehen. Gerade deshalb sind sie niemals Ersatz für den biblischen Text.
Theologische Forschung dient, so möchte ich jetzt die Frage in einem zweiten Schritt aufnehmen, der Gewissheit des Glaubens. Präziser gesagt: Sie dient seiner Vergewisserung. Dies geschieht zunächst dadurch, dass sie die vorhandenen Fragen aufnimmt, gelten lässt und zu beantworten sucht. Wie ein Detektiv braucht sie dafür Zeit. Die historische Frage z. B. meldet sich im Neuen Testament ganz elementar bei jenem Zachäus, von dem Lukas in Lk 19,3 berichtet: „er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre!“ Die systematische Frage z. B. wurzelt ganz elementar in der Reaktion der Hörer auf die Verkündigung des Paulus, von der derselbe Lukas in Apg 19,11 berichtet: „Sie forschten täglich in der Schrift, ob sich’s so verhielte.“ Unter diesen und ähnlichen Aspekten ist theologische Forschung kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für die Gemeinde, und – sofern Forschung zur Lehre wird – ein Charisma.
Zur Aufgabe der Vergewisserung des Glaubens zählt auch die Aufgabe, ein Gesamtbild zu erarbeiten, in dem der Glaube seinen Pfad entdeckt und in dem die Verkündigung ihren Gesamtrahmen und ihre Einordnung findet. Vor allem Schlatter hat die Bedeutung eines solchen Gesamtbildes unterstrichen. In seinem Aufsatz über den Schriftbeweis von 1927 formulierte er, uns Menschen treibe „unser Denkvermögen, aus unseren Gedanken etwas Ganzes zu machen, indem wir sie zur Einheit miteinander verbinden. Wenn wir nur ein Häuflein von Vorstellungen besitzen, die unverbunden nebeneinander stehen und sich oft gegenseitig bestreiten, empfinden wir dies als Unvollkommenheit, die uns schwächt“.8 So verstanden, können Forschung und Lehre sogar unnötigen Streit aus dem Weg räumen, der die Gemeinde lähmt.
Wir wollten noch auf die Zukunftsaufgaben zurückkommen. Kann sie die Forschung lösen? Ja und Nein. Nein, weil außer dem dreieinigen Gott niemand weiß, wie unsere Zukunft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wirklich aussieht. Glauben Sie mir, langsam fasst einen ein steigendes Grauen, wenn man so viele Prognosen liest und für richtig halten soll. Die Zukunft wird uns überraschen, weil Gott uns immer wieder überrascht. Man kann im Spiegel des Jonabuches ja fast das überraschte Gesicht des Jona erkennen, der draußen vor Ninive wartete. Wir sitzen nicht im Geheimen Rat des Herrn, wie Bengel betonte. Nun aber zur positiven Seite: Eine solide Forschung kann durchaus die Bausteine bereitlegen, mit denen zukünftige Generationen gerüstet sind. Die Theologie der Kirchenväter bleibt an vielen Stellen brauchbar, und erweist sich gelegentlich sogar als dauerhafter im Vergleich zur Moderne. Um noch einmal Bengel zu zitieren: „Ein Zwerg sieht weiter als ein Riese, wenn er auf die Schultern des Riesen steigt.“ So stehen wir auf den Schultern der vorangegangenenGenerationen und ihrer theologischen Forschung. Es muss unser Anliegen sein, dass uns Gott inmitten unserer Probleme das Charisma schenkt, Weiterführendes zu forschen und zu entdecken.
Die Frage nach Sinn und Ziel theologischer Forschung möchte ich nicht abschließen, ohne auf einen oft verborgenen oder verdrängten Sinn hinzuweisen. Das ist die Schönheit, zu der die theologische Forschung einen Zugang verschafft, ja von der sie umgeben ist. Sie ist nicht nur Arbeit und Anstrengung. Sie führt zu Quellen der Schönheit. Was macht es für einen Sinn, nur von der Pflicht und der Strenge der theologischen Forschung zu sprechen und darauf auch noch stolz zu sein? Die Botschaft, das Wort, die Schrift, womit sie es zu tun hat, schließt einen viel weiteren Horizont auf. Bewusst stelle ich deshalb Psalm 119,129 an diese Stelle: „Deine Mahnungen sind Wunderwerke“. Weit mehr also als die Weltwunder der Geschichte! Weit mehr als für Menschen überhaupt fassbar wird! Wir haben es mit Wunderwerken der Barmherzigkeit zu tun, aber auch mit Wunderwerken göttlicher Schönheit. Das wollen wir gerade bei einer Jubiläumsfeier nicht vergessen. Das Ende der Wege der Forschung ist die Doxologie.
1 F. Graf-Stuhlhofer, Martin Luthers Bibelgebrauch in quantitativer Betrachtung, Theologisches Gespräch, 24, 2000, S. 119
2 Z. B. 1539 in der Vorrede zu den dt. Schriften
3 Bekenntnisse der Kirche, Wuppertal, 1985, S. 298f
4 3. Aufl., Tübingen, 1977, S. 37
5 Nach Lutherlexikon, hrsg. von K. Aland, 4. Aufl., Göttingen: 1989, S. 149 (Nr. 587)
6 Nach Joh. Christ. Friedr. Burck, Dr. Johann Albrecht Bengels Leben und Wirken, 2. Aufl., Stuttgart, 1832, S. 212
7 Nach Adolf Schlatter, Die Bibel verstehen, hrsg. von Werner Neuer, Gießen – Basel, 2002, S. 99f
8 A. a. O., S. 101
aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 9/1 (2003) Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie |
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01.06.2003 |