Rationalität, Kirchenreform, Feministische Christologie und Methodistische Evangelikale

Herbsttagung der Facharbeitsgruppe Systematische Theologie

Christian Herrmann

Am 1. und 2. Oktober 2004 traf sich die Facharbeitsgruppe Systematische Theologie im Theologischen Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen zu ihrer Herbsttagung. Bei zwischen neun und zwölf Personen schwankender Teilnehmerzahl ergab sich in der Aussprache nach den Referaten und bei Pausen und Mahlzeiten ein reger und intensiver Austausch; auch wurden persönliche Anregungen und wertvolle Informationen für den jeweiligen Berufsweg weitergegeben.

Wort Gottes und Rationalität

PD Dr. Ulrich Moustakas (Universität Tübingen) – Mathematiker und Theologe – setzte ein mit dem Ansatz Karl Barths: die Theologie ist vom Wort Gottes her zu begründen; sie ist ein diesem nachdenkender Gehorsam; mit der Orientierung an diesem erhält sie ihre Sachgemäßheit. Demgegenüber fordert Heinrich Scholz eine Verbindung von Glaubenserkenntnis und Rationalität und lehnt eine Reduktion auf ein rational nicht begründbares Glaubensbekenntnis ab. Von Hans-Georg Gadamers sprachphilosophischen Thesen könne man lernen, dass es bei der Textlektüre primär darum gehe, sich dem Wahrheitsanspruch des Textes gegenüber offen zu halten, sich vom Text etwas sagen zu lassen. Ein sog. rein historisches Textverständnis beruht nach Gadamer gerade nicht auf einer Unvoreingenommenheit, sondern auf einer Ablehnung des Wahrheitsanspruchs. Das Verstehen trägt den Aspekt der Korrektur, des Umdenkens in sich. Im Vorgang der Applikation gilt es, die Botschaft auf sich anzuwenden, zu beziehen. Anhand der Einsichten Thomas Kuhns wurde vor Augen geführt, dass die Versuche der Naturwissenschaften, eine neutraleBeobachtungssprache herzustellen, letztlich fehlgeschlagen sind. Die naturwissenschaftlichen Erfahrungen sind stets theoretisch vorstrukturiert. Wissenschaftliche Theorien sind nicht Abbildungen einer absoluten Wirklichkeit, sondern legen die Welt auf eine bestimmte Ontologie hin aus. Moustakas zog den Schluss, dass es bei Natur- wie Geisteswissenschaften um eine Auslegung von Wirklichkeit anhand intersubjektiver Regeln geht. Über die Wissenschaftlichkeit bestimmt die Sachgemäßheit, zu der auch ein explizierbares Faktenwissen (z. B. philologische Regeln, historische Realien, religionsgeschichtliche Hintergründe) gehören. In der Aussprache wurde eingewandt, dass Gadamer von Richard Rorty im Sinne eines postmodernen Relativismus gedeutet werde. Die Naturwissenschaften beschrieben nicht nur Wirklichkeit, sondern erhöben einen mit der Theologie konkurrierenden totalen Erklärungsanspruch, wie es etwa in der Behauptung einer grundsätzlichen Undenkbarkeit von Wundern zum Ausdruck käme. Ohne den Glauben bestehe andeerseits oft keine Motivation oder Veranlassung, über diesen weltanschaulichen Konflikt nachzudenken.

referierend Dr. Christoph Rädel, daneben Gudrun Theurer, zweiter von rechts: PD Dr. Ulrich Moustakas

Ecclesia semper reformanda

Martin Abraham, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Universität Tübingen, ging der viel ge- und missbrauchten Formel „ecclesia semper reformanda“ nach. Sie stammt vermutlich von Jodocus van Lodenstein (1620–1677), gibt aber inhaltlich ein Anliegen der Reformation wieder. Eine Streitfrage ist, ob eine beständige Anwendung reformatorischer Prinzipien als Rückkehr zur Reformation (Reinigung, Erneuerung) angestrebt wird oder eine Vollendung im Sinne einer zweiten und eigentlichen Reformation. Paul Tillich hält die permanente Kritik am Bestehenden und die Gewinnung einer profan fassbaren Gestalt der Gnade für das protestantische Prinzip, gesteht aber zu, dass es ohne eine vorhandene Gemeindebasis nicht geht. In der reformatorischen Sicht wird dies deutlicher: die Kirche, nicht der Protestantismus ist das Subjekt, der Ausgangspunkt (und Gegenstand) der Veränderung. Ein „progressus ad infinitum“ spiritualisiert die Reformation. Gemäß Abraham sollte man nicht nach einer „Reform der Reformation“, sondern nach einer„reformatorischen Reform“ trachten. Die Reform darf sich orientieren an einer a priori zufälligen, a posteriori aber notwendigen Größe (Hl. Schrift, Kirche im Sinne von Predigt und Sakramentsverwaltung). Die Reformation ist kein dualistisches Dauerprogramm, sondern eine Sache Gottes; sie sollte nicht aus Angst (z. B. vor leeren Kirchenbänken), sondern von einer Verheißung her geschehen bzw. erwartet werden. Ohne Bekenntnis der Reformbedürftigkeit aber gerät die Kirche in eine Grundlagenkrise. In der Aussprache wurde auf das Anliegen Speners einer „ecclesiola in ecclesia“ hingewiesen: hier werden reformatorisches Geschehen und Bindung an fassbare Gestalten miteinander verbunden. In der Erweckungsbewegung geschah die Gestaltbildung immer von einem soteriologischen Impuls her. Bemerkenswert ist die Verbindung von inhaltlichem Modernismus und formalem Strukturkonservativismus in vielen landeskirchlichen Gemeinden.

Feministische Christologie

Dipl.-Theologin Gudrun Theurer (Seewald) – die erste Referentin bei einer FAGST-Tagung – führte in einer scharfsinnigen Analyse die Grundentscheidungen und Typen der feministischen Theologie (FT) mit einer Zuspitzung auf die Christologie vor Augen. Feministinnen lehnen eine wertfreie Bibelauslegung ab und machen die kulturell bedingt unterschiedlichen Erfahrungen der Frauen zum Ausgangspunkt. Es gibt drei Gruppen der FT: a) solche, die die Bibel akzeptieren und kein sexistisches Übergewicht ihrer Aussagen annehmen; b) die meisten sagen, die Bibel sei teilweise sexistisch, teilweise nicht; c) solche, die im Sinne einer nachchristlichen FT die Bibel völlig ablehnen und neu schreiben. Die Hermeneutik der FT basiert auf mehreren Eckpunkten: Verdacht (Aufspüren patriarchalischer Einflüsse), Erinnerung (Hervorbringen der von Männern verschütteten spezifisch weiblichen Schichten), Verkündigung (v. a. negativ als Vermeiden vermeintlich frauenfeindlicher Formulierungen), Kreativität (Neu- und Weiterschreiben biblischer Texte im Sinne einer „Theophantasie“). Typisch für die FT ist die Ablehnung des als Dalismus betrachteten Gegenübers von Gott und Mensch, Mann und Frau, Immanenz und Transzendenz. Es gibt keine feministische Eschatologie, weil die Befreiung als Aufgabe im Jetzt verstanden wird. Jesus hat durch die Überwindung der typisch männlichen Versuchungen (Hybris, Dominanzstreben u.s.w.) vorgelebt, was Erlösung ist, diese aber nicht in sich begründet. Nicht Jesus verändert uns, sondern er wird etwa durch den Glauben der Syrophönizierin verändert. Die Inkarnation ereignet sich, wo Menschen in einem wechselseitigen Beziehungsgeschehen – zwischen Menschen – aus Unterdrückung befreit werden (incarnatio continua). Das am ersten Gebot orientierte traditionelle (männliche) Sündenverständnis treibt nach Auffassung der FT die Frauen noch mehr in die Inferiorität und Passivität, statt sie zur Selbstwerdung anzuleiten (Auferstehungsfähigkeit der Frauen). Gott kann nicht Richter oder heilig sein, sondern akzeptiert in einer matriarchalen Liebe alle Menschen. Kreuz und Sühnetod erscheinen der FT als Ausdruck eines sadistischen und typisch patriarchalen Gottesverständnisses. In der Aussprache wurde nach Möglichkeiten eines seelsorgerlichen Zugangs zu an der FT orientierten Frauen gefragt, die häufig Verletzungen durch Männer auf diese Art und Weise zu verarbeiten versuchen. Der totalitäre Anspruch und das kulturkämpferische Pathos der FT sprengt andererseits die Möglichkeiten des Dialogs und der innerkirchlichen Integrierbarkeit.

Evangelikalismus methodistischer Prägung

Dr. Christoph Raedel (Reutlingen), Habilitand in Halle/Saale, machte deutlich, dass der Methodismus anfänglich wegen seiner Anliegen der Orthopraxie (Doppelgebot der Liebe, Glaubensmanifestation), Orthopathie (christozentrische Glaubenserfahrung), Orthodoxie (ekklesiale Einbindung) mit der evangelikalen Bewegung geradezu gleichgesetzt wurde. Im 19. Jh. kam es zu gewissen Anpassungstendenzen gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld (z.B. mehr Wohlstand, stärkere liturgische Formalisierung) mit Gegentendenzen in der Heiligungsbewegung. Der deutsche Methodismus glich sich in der Zeit um den 1. Weltkrieg an die Landeskirchen an. In den USA haben evangelikale Reformstrukturen den Aspekt der Katholizität gegenüber dem des Pluralismus als ekklesiologische Grunddimension in den Vordergrund treten lassen (1988 gegenüber 1972). Für die „Good News Movement“ (seit 1967 v.a. in liberalen US-Staaten) und die „Confessing Movement“ (seit 1995 v.a. in den Südstaaten) steht die Soteriologie im Zentrum. Kennzeichnend für methodstische Evangelikale ist zudem: Lehre quasi als „Grammatik“ von Glaubenserfahrung und -leben, Zurückstellung eschatologischer Spekulationen und exakter schrifthermeneutischer Definitionen (funktionales, auf Heilsgeschehen ausgerichtetes Schriftverständnis). Die zeitweilige Distanzierung von Methodismus und Evangelikalismus (vgl. Social Gospel Movement) liegt darin begründet, dass die Bipolarität von göttlichem und menschlichem Handeln in den Hintergrund getreten, die Pneumatologie säkularisiert worden ist. Allerdings lassen Änderungen in den „Social Principles“ der amerikanischen United Methodist Church im Jahr 2004 auf eine Revitalisierung des traditionellen Erbes hoffen.

Die nächste Tagung der FAGST wird am 11. und 12. Februar 2005 in Marburg stattfinden.

 
aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 10/2 (2004)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie
17.03.2005 – http://www.afet.de