Theologie soll und kann nach Gottes Willen Motor zur Reform der Kirche sein; vorausgesetzt Theologie denkt und lebt aus dem Wort der heiligen Schrift. Denn die Gemeinde Jesu Christi bedarf immer wieder der Erneuerung. Reformation im biblischen Sinne ist der von Gott selbst bewirkte Anstoß umzukehren. Viele Protestanten im nachreformatorischen 17. Jahrhundert wähnten sich jedoch in dogmatischer Rechtgläubigkeit gar zu sicher. Das Entscheidende war nach ihrer Überzeugung durch Luther oder Calvin bereits geschehen. Nun galt es den Besitzstand geistlicher Erkenntnis durch Orthodoxie zu sichern.
Doch auch innerhalb der evangelischen Kirche beließ es der Herr der Kirche nicht bei bloßer Besitzstandswahrung. Er schenkte einen Reformator nach der Reformation, nämlich Philipp Jakob Spener. Seines 300. Todestages gedachten wir am 5. Februar dieses Jahres. An ihm wird exemplarisch die Dynamik des „ecclesia semper reformanda est“ deutlich.
Johann Albrecht Bengel, der führende Theologe des frühen Pietismus in Württemberg, suchte in der Apokalypseauslegung seines „Gnomon“ die drei Engel in Offenbarung 14,6–10 spezifischen Gestalten der Kirchengeschichte zuzuordnen. Nach Bengels Ansicht war der erste Engel in der Person Johann Arndts (1555–1621) bereits erschienen. Falls der zweite bereits eine geschichtlich reale Person sei, wollte Bengel diese mit Spener identifizieren; der dritte Engel würde nach Bengels Überzeugung erst unmittelbar vor 1836, also dem von ihm berechneten Termin zum Beginn des tausendjährigen Reiches in Erscheinung treten.
Was verlieh dem 1635 geborenen Spener eine solche herausragende Bedeutung? Es ist zuerst und vor allem Speners knappe 1675 verfasste und ein Jahr später als Vorwort zu Arndts Predigtpostille veröffentlichte Programmschrift: „Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“. Auf wenigen Seiten legt Spener dar, wie die evangelische Kirche seiner Zeit durch grundlegende geistliche und sittliche Erneuerung wieder zur „wahren evangelischen Kirche“ werden kann. Dabei ist ihm klar, dass es nicht an den Inhalten der Lehre, also der in der Reformation neu entdeckten Wahrheit des Evangeliums liegt, sondern an der inneren Aneignung dieser Wahrheit und ihrer Umsetzung in die Praxis des Lebens. Spener hört als Angefochtener das Wort Gottes. Er klagt aus Betroffenheit und mit nüchterner Selbsterkenntnis über die Missstände auf allen Ebenen: die egoistische Machtpolitik der herrschenden Fürsten, das bloße Kopfchristentum bei den Pfarrern und Theologen und den moralische Verfall in der Gesellschaft überhaupt. Aber Spener belässt es weder bei der kritischen Analyse noch verfällt er in Resignation, sondern denkt verheißungsorientiert. Er geht bei seinen Reformbemühungen von der Realität des Auferstandenen und der Zukunft des Gottesreiches aus.
Die Eckpunkte seiner „Pia desideria“ (Fromme Wünsche) sind von der reformatorischen Entdeckung des allgemeinen Priestertums bestimmt. Dieses gewinnt Mündigkeit dadurch, dass dem Christen Gottes Wort in den Mund gelegt wird. Es geht Spener nicht wie der späteren Aufklärung um die in der Ratio begründete Autonomie, die das einzelne Subjekt aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ herausführen soll, sondern um die Bevollmächtigung des Menschen durch das Wort Gottes. Dieses soll durch „collegia pietatis“, d.h. vor allem durch Hausbibelkreise „reichlich“ unter die Leute gebracht werden. Spener erwartet alles zur Reform nötige von einer erwecklichen, auf Wiedergeburt und persönliche Heiligung hin orientierten Verkündigung. Es geht ihm darum, das reformatorische „sola scriptura“ (allein die Schrift) nicht nur im Blick auf die rechte Lehre, sondern auch im Blick auf das rechte Leben wirksam werden zu lassen.
Aus diesem Ansatz heraus entwickelt Spener dann auch als einer der führenden Theologen in Deutschland gezielte Reformschritte für die Amtspraxis der Pfarrer und für deren Ausbildung im Theologiestudium. Nach Spener geht es nicht an, dass Pfarrer sonntags auf der Kanzel in diffizilen Lehrdiskussionen stecken bleiben. Je nach konfessioneller Position verloren sich viele Prediger in polemischen Auslassungen gegenüber Katholiken oder gegen die lutherische bzw. reformierte Seite. So kann man nicht Gemeinde bauen und die Herzen erreichen. Um die Bekehrung und Erneuerung der Herzen aber soll es der evangelischen Predigt als der evangeliumsgemäßen Predigt gehen. Um dieses praktisch-theologische Anliegen zu fördern, fordert Spener eine auf die Gemeinde bezogene theologische Ausbildung. Die Studenten sollen an der Universität nicht nur latein sprechen, sondern gelegentlich auch deutsch. Sie sollen in ihrer Mutter- und Predigtsprache fähig werden, den „Leuten aufs Maul zu schauen“.
Nun ist ein Aspekt in Spener Reformvorschlägen, die inmitten des konfessionalistischen Zeitalters verfasst wurden, besonders auffällig und spannend: Spener hat auf Grund der verändernden Kraft des Wortes Gottes die „Hoffnung besserer Zeiten“ erwartet. Er rechnet damit, dass die Erneuerung der „wahren evangelischen Kirche“ auf das religiöse Umfeld attraktiv wirkt. Wenn Juden und Katholiken – so seine Argumentation – etwas von den guten Früchten evangelischen Glaubens, der in der Liebe tätig ist, verspüren, dann wenden sie sich dieser Botschaft zu. Reformation ist für Spener im Gegensatz zum damaligen Zeitgeist keine Zementierung konfessioneller Positionen und unbefristeter institutioneller Abgrenzungen der Kirchen, sondern die bleibende Herausforderung mit Gottes Wort Konfessionsgrenzen missionarisch zu überschreiten. Der Glaube findet sich mit dem status quo der getrennten Kirchen nicht ab, sondern erhofft durch Verkündigung und entsprechende Lebenspraxis der evangelischen Christen, dass diese in der römischen Kirche eine innere Reform zum Evangelium hin auslöst.
Dieser so eindeutig ökumenische Aspekt des beginnenden Pietismus ist nach über 300 Jahren zukunftsweisend. In unserer Zeit, in der durch herausragende Persönlichkeiten das Papsttum einen ungeahnten Glanz und unglaubliche Beachtung in den Medien findet, stellt sich die Frage nach dem evangelischen Profil neu. Bei diesem Profil geht es nicht um die Akzeptanz der konfessionellen Trennung, sondern um deren Überwindung durch die Wirkung des Evangeliums in Lehre und Leben. Wenn wir im 21. Jahrhundert eine tiefgreifende Erneuerung der römisch-katholischen Kirche nicht mehr erwarten, dann bedeutet dies, dass wir die „Hoffnung besserer Zeiten“ aufgeben. Dazu besteht aber angesichts des aktuellen Gesprächs zwischen den Konfessionen keinerlei Anlass. Weil wir ein „ewiges Evangelium“ haben, wirkt es dort, wo es klar verkündigt und überzeugend gelebt wird, ansteckend und radikal reformierend. Gerade auch heute!
In diesem Sinne grüße ich Sie alle, liebe Freunde des AfeT mit dieser Ausgabe unserer „Theologischen Mitteilungen“ ganz herzlich. Ich möchte uns alle als evangelikale Theologen ermutigen, in der Dynamik der pietistischen Kirchenreform dem Wort Gottes Erneuerung an „Haupt und Glieder“ zuzutrauen.
Ihr