Zum 100. Geburtstag von Peter Brunner

Am 25. April 2000 jährt sich der Geburtstag von Professor Dr. Peter Brunner (1900 – 1981) zum hundersten Mal. 1934 verlor der seinerzeit in Gießen lehrende Systematiker seinen Lehrstuhl und wurde für kurze Zeit in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Als aktives Mitglied der Bekennenden Kirche war an deren illegaler Theologenausbildung (Wuppertal) beteiligt. Von 1947 bis 1968 war er als Professor für Systematische Theologie in Heidelberg einer der profiliertesten und streitbarsten lutherischen Theologen. Am 21. Mai 1950 hat er in einen Artikel veröffentlicht1, der die Überschrift trägt: „Die ganze Theologie auf einem Bogen Papier“. Dieser Artikel enthält ein persönliches Glaubensbekenntnis Brunners und gleichzeitig in nuce den ganzen Horizont seines theologischen Denkens. Aus Anlass seines Geburtstags sei der Text ungekürzt wiedergegeben:

Die ganze Theologie auf einem Bogen Papier

Graf Zinzendorf hat einmal gesagt, man müsse die ganze Theologie mit großen Buchstaben auf ein Oktavblatt schreiben können. Was über den Inhalt unseres christlichen Glaubens zu lehren ist, muss sich in der Tat in wenigen Sätzen zusammenfassen lassen. Martin Luther hat uns in seiner Auslegung der drei Artikel unseres christlichen Glaubens eine solche kurze Zusammenfassung geschenkt, deren Inhalt für alle Zeiten in der christlichen Kirche eine vorbildliche und verpflichtende Bedeutung behalten wird. Doch wird jede Generation die Aufgabe haben, diese unauflöslichen Elemente des christlichen Glaubens auf Grund der Heiligen Schrift und in Übereinstimmung mit dem Bekenntnis der Väter auch mit eigenen Worten und nach dem Maße der geschenkten Einsicht und Gewissheit auszusprechen. Bei dem Versuche, solche Einsicht und Gewissheit in wenigen Sätzen zusammenzufassen, wird sich herausstellen, was tatsächlich zu unserem inneren geistlichen Besitz geworden ist.

Die folgenden Sätze sind das Ergebnis eines Versuches, auf einem Bogen Papier zusammengefasst das niederzuschreiben, was durch das uns verkündigte Evangelium zu den Grundpfeilern unseres Glaubens geworden ist. Keiner dieser Sätze kann bewiesen werden. Darum steht über jedem Satz: „Ich glaube.“ Der Aussage „Ich glaube“ kommt aber eine Gewissheit zu, die es sonst in der Welt nicht gibt. Dieses Vorzeichen „Ich glaube“ bringt zum Ausdruck, dass der Inhalt dieser Sätze von mir, von der Existenzgrundlage meiner Person, nicht mehr abgelöst werden kann. Es ist kein Zufall, dass in jedem Absatz „Ich“ oder „Wir“ vorkommt, obwohl in diesen Sätzen auch von Ereignissen gesprochen wird, die lange vor meinem Geburtstag geschehen sind und wahrscheinlich erst lange nach meinem Todestag geschehen werden. Aber dies ist das Geheimnis des christlichen Glaubens, dass ich selbst jetzt und hier von diesem Geschehen, das sich da außerhalb meines Lebens zugetragen hat und zutragen wird, in einer sehr konkreten Weise betroffen bin. Vo dieser Geschichte außer mir - sie beginnt mit der Erschaffung der Welt, sie ist zusammengefasst in dem einen Namen Jesus Christus, sie kommt an ihr Ende in der Auferstehung von den Toten - von dieser Geschichte bin ich mit allem, was ich bin, so umfasst, dass durch sie das Urteil über Leben und Tod über mich ergeht.

Doch genug der Vorworte! Hier folgt der Bogen Papier, auf dem m.E. ‚die ganze Theologie‘ geschrieben steht. Der Leser prüfe sich und frage sich, ob er sich selbst zusammen mit dem Schreiber dort wiederfindet, wo etwas von ‚mir‘ und über ‚mich‘ ausgesagt wird.

I. Ich glaube: Gott der Vater hat mich und alles, was ist, durch seinen Sohn, der von Ewigkeit vor aller Welt beim Vater ist, erschaffen und mich mit allen Menschen und Engeln in seinem Sohn zu einer durch den Heiligen Geist vermittelten Gemeinschaft mit sich bestimmt und zur Teilhabe an seinem eigenen ewigen Leben ausersehen.

II. Ich glaube: Infolge des Sündenfalles2 bin ich mit allen Menschen schon mit der Geburt unter die Herrschaft der Sünde, des Todes und des Teufels getreten. Ich habe mich3 von Gott in Feindschaft abgewandt. Ich kann mit meinen eigenen Kräften seine Gebote nicht erfüllen. In der Verfassung, in der ich geboren bin, bin ich notwendig und dennoch schuldhaft ein Sünder, der unter Gottes Zorn steht. Daher bin ich im Gericht Gottes verloren, verdammt und tot in Ewigkeit, wenn mir nicht Rettung kommt von woanders her.

III. Ich glaube: Damit mir und allen Menschen Rettung widerfahren könne, erhält Gott mich und alte Menschen in seiner Langmut4 trotz Sünde und Schuld leiblich und geistig in diesem irdischen Leben.

IV. Ich glaube: Die Rettung aus Verlorenheit, Verdammnis und ewigem Tod ist für mich und alte Menschen gekommen in Jesus Christus, der wahrhaftiger Gott ist, vom Vater vor alter Zeit in Ewigkeit geboren, der um unserer Rettung willen auf die Erde gekommen, auch als wirklicher Mensch geboren und in allem uns Menschen gleichgeworden ist - doch ohne Sünde. Er hat nach dem Willen des Vaters in freier Hingabe Gottes Zorn und Gericht in seinem Leiden und Sterben erduldet, die Herrschaft von Sünde, Tod und Teufel zerbrochen und aus Tod und Grab heraus in seiner Auferstehung ein neues, unzerstörbares Leben ans Licht gebracht, das allein und in Wahrheit Leben ist und ewig währt.

V. Ich glaube: Jesus Christus hat in der Vollmacht Gottes die Verkündigung seines Evangeliums, die heilige Taufe5 und sein heiliges Mahl als die rettenden Machtmittel eingesetzt, durch die er uns in das Heilsereignis seines einmaligen Sterbens und Auferstehens hineinnimmt, uns der Herrschaft der finsteren Mächte entreißt und uns der von ihm gewirkten Erlösung teilhaftig macht, wenn wir das Evangelium und die Sakramente in dem Glauben empfangen, den der Heilige Geist selbst durch das Evangelium und die Sakramente in uns wirkt. Die Gemeinschaft derer, die das Evangelium und die Sakramente im Glauben empfangen, ist die eine, heilige, unzerstörbare Kirche Gottes auf Erden.

VI. Ich glaube: Ich bin kraft der Wirkung des Evangeliums und der Sakramente Jesu Christi Eigentum durch den Glauben und von Gott um Jesu Christi willen von allen meinen Sünden freigesprochen, für gerecht erklärt und durch solchen lebenschaffenden Freispruch in Wahrheit gerecht gemacht. Obwohl ich täglich noch viel sündige und bis zu meinem Tode auf die gnädige Vergebung meiner Sünden angewiesen bleibe, glaube ich doch zuversichtlich, dass ich nicht mehr notwendig sündigen muss, sondern anfangen darf, aus der Kraft des geistgewirkten neuen Lebens heraus Gottes Gebote in einem neuen Gehorsam gern und fröhlich zu erfüllen, wenn auch in großer Schwachheit und Gebrechlichkeit.

VII. Ich glaube: Jesus Christus wird in Herrlichkeit wiederkommen. Dann muss ich mit allen Menschen, die gelebt haben und noch leben werden, in der Auferstehung von den Toten vor seinem Richterthron offenbar werden. Dann wird er zwischen den Ungläubigen, die die Gabe seines Heils verworfen haben, und seinen Gläubigen endgültig scheiden. Die, die er als Ungläubige erkennt, bleiben unter dem Zorn Gottes in ewigem Tod und in ewiger Pein. In denen aber, die er als seine Gläubigen erkennt, wird der Heilige Geist sein umschaffendes Werk zusammen mit der Neuschöpfung von Himmel und Erde vollenden zu ewiger Seligkeit. Dann wird Gott sein alles in allem.6

Peter Brunner

Anmerkungen:
1 Kirche und Gemeinde. Evangelisches Sonntagsblatt für Baden 5 (1950), 143f.
2 Später ersetzt von Brunner: „Einbruch der Sünde in die Welt“.
3 Später ersetzt: „bin von Haus aus“.
4 Später ersetzt: „im Blick auf das Opfer Jesu Christi“.
5 Später ergänzt: „die Absolution“,...
6 später ergänzt durch einen Absatz VIII: „Dann preise ich in solchem Glauben den einen, dreieinigen Gott: Vater, Sohn und Heiligen Geist.“

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 6/1 (2000)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie

22.07.2000
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