Im Spannungsfeld zwischen Charisma und Amt

Die Frühjahrstagung der Facharbeitsgruppe Praktische Theologie

Hans-Georg Wünch

Zu der diesjährigen Tagung der AfeT-Facharbeitsgruppe Praktische Theologie am 13. und 14. März waren elf Teilnehmer in das Neues Leben-Zentrum nach Wölmersen gekommen. Das Generalthema war das Spannungsfeld zwischen Charisma und Amt.

Charisma und Begabung

Einleitend hielt Dr. Markus Liebelt einen Vortrag zum Thema „Charisma und individuelle Begabung als strukturbildende Faktoren?“ Darin vertrat er die These, dass grundsätzlich zwischen einer soziologischen und einer theologischen Füllung des Charisma-Begriffes unterschieden werden müsse. Im NT, so betonte Liebelt, gebe es den Begriff „charisma“ nur unter dem theologischen Aspekt, der die grundsätzliche Gnade Gottes betone. Sämtliche Funktionen und Gaben der Gemeinde werden dadurch als in der Gnade Gottes gewurzelt gesehen.

Liebelt wandte sich gegen einen substantiellen Charisma-Begriff, bei dem der Mensch von Gott eine „Gabe“ erhalte, die dann von ihm verfügbar und einsetzbar sei. Vielmehr handle es sich darum, dass Gottes Gnade alle menschlichen Fähigkeiten nutzbar mache und dafür sorge, dass in der Gemeinde alle notwendigen Gaben zum richtigen Zeitpunkt vorhanden seien. Sie seien, so Liebelt, nicht an einen Träger der Gaben gebunden, sondern würden jeweils von Gott zugeteilt. Liebelt: „Das Natürliche steht wesensmäßig dem Übernatürlichen entgegen.“

Die individuellen Fähigkeiten des Menschen gehören nach Liebelt ausschließlich in den Bereich des Natürlichen und sind daher der Vergänglichkeit unterworfen. Begründet liegen sie im Schöpfungshandeln Gottes (imago dei). Sie sind also nicht pneumatologisch begründet. Sie haben in Gott ihren Ursprung, sind aber nicht an Gott gebunden. Charisma sollte daher nicht als Gnaden“gabe“, sondern soteriologisch als Gnaden“wirken“ Gottes verstanden werden. Es geht, so Liebelt, nicht um die Befähigung oder gar um eine habituelle Qualität des Individuums.

Liebelt fragte nun, was dies im Blick auf das Spannungsfeld von Charisma und Gemeindeverfassung bedeute. Jede Aktivität der Gemeinde Gottes, so betonte er, gilt als in der Gnade Gottes begründet. Weder 1.Kor. 12 noch Röm. 12 haben die Frage der Gemeindeverfassung im Blick, sondern es geht darum, alle Erscheinungsweisen von Gemeinde in Gottes Gnade zu verankern. Die Frage nach der Gemeindeverfassung steht, so schlussfolgerte Liebelt, in keinem direkten Zusammenhang mit der neutestamentlichen Charismalehre. Charisma steht also weder in einem Gegensatz zur Gemeindeverfassung (Institution), noch muss sie damit identifiziert werden.

Ein soziologischer oder habitueller Charismabegriff ist nach Ansicht von Liebelt die treibende Kraft hinter der Spannung zwischen Geist und Amt. Ein genuin theologischer Charismabegriff dagegen steht in keinem Gegensatz zum Amt. Ein Gegensatz zwischen den Pastoralbriefen und den anderen Briefen von Paulus ist daher auch nicht zu sehen. Auch die Leiterschaft ist in so weit als charis charakterisiert, als sie in Gottes Gnade ihren Ursprung hat und auf die gesamte Gemeinde ausgerichtet ist. Als Gnadenerweis Gottes begegnet charis sowohl in den spontanen Gemeindeaktionen, als auch in der institutionalisierten Funktion etwa der Gemeindeleitung. Beides gehört integral zum Leib Christi und zielt auf den Aufbau der Gemeinde ab.

Charisma und Leitungsamt

Diesen Gedanken führte Liebelt dann in einem zweiten Vortrag unter dem Thema „Die Bedeutung des Charisma in Bezug auf gemeindeleitende Funktionen in den Pastoralbriefen“ weiter aus. Er vertrat dabei die These, dass es sich auch in den Pastoralbriefen nicht um einen substantiellen Charismabegriff handle. Vor allem die Aussage „die Gabe, die in dir ist“ (1Tim. 4,14) wird gewöhnlich als eine dem Amtsträger inhärente Größe angesehen. Unter der Voraussetzung der Echtheit und der paulinischen Autorität darf, so Liebelt, der Charismabegriff der Pastoralbriefe jedoch nicht von den anderen paulinischen Aussagen gelöst werden. Zwar erfährt der Begriff in den Pastoralbriefen eine personbezogene Konkretisierung, aber er wird nicht grundsätzlich anders verstanden. Eine Umdeutung ist nicht zu sehen, sondern lediglich ein konkreter Person- und Sachbezug.

Bei der Vermittlung der Gnadengabe an Timotheus gehören Handauflegung und Prophezeiung untrennbar zusammen. Liebelt vertrat die Ansicht, dass es sich bei dem hier gebrauchten Prophetiebegriff um die Weitergabe der Botschaft Gottes, die wir im Alten Testament finden, an Timotheus handelt. Dies ist bei Timotheus zu sehen in der vorausgehenden Verkündigung der guten Botschaft des AT durch die Mutter und Großmutter und durch Paulus. Dies soll Timotheus wiederum weitergeben. Prophetie gehört daher nicht in den Ordinationsgottesdienst des Timotheus, sondern muss im Vorfeld gesehen werden.

An die beiden Vorträge von Dr. Liebelt schlossen sich lebhafte Diskussionen an, in denen vor allem die grundsätzlich Verneinung eines habituellen Charismabegriffes sowie das Verständnis des Prophetischen im Kontext der Amtseinsetzung des Timotheus im Vordergrund standen.

Das Pastorenamt im Baptismus

Neben Dr. Liebelt hielt Pastor Max Hölzl einen Vortrag über „Das Amtsverständnis des Gemeindepastors im deutschen Baptismus“. Hölzl, selbst Pastor einer Baptistengemeinde, zeigte dabei, dass gerade die Frage nach Amt und Bedeutung des Pastors im Baptismus keineswegs geklärt ist, trotz einer fast 400-jährigen Geschichte. Typisch für den Baptismus ist es, so Hölzl, dass es keine verbindlichen Bekenntnisschriften gibt. Zu den Grundsätzen gehört jedoch, dass das allgemeine Priestertum aller Gläubigen bedeutet, dass eine Hierarchie ausgeschlossen ist. Was, so fragte Hölzl, ist dann der „Pastor“, welches „Amt“ hat er?

Hölzl sah hier eine eigenartige Spannung. Auf der einen Seite wird das Existieren von Ämtern fast entschuldigend erwähnt, auf der anderen Seite steht aber die Bedeutung und Funktion des Predigers/Pastors nicht zur Debatte. Zwei große Einflüsse sind für die Spannung verantwortlich: 1. Die große Skepsis, die von den beiden Großkirchen vor allem in Deutschland dem Baptismus entgegentrat (Verteidigung war daher die vorherrschende Haltung) und 2. Die Brüderbewegung, die jede Form von Pastorat oder Amt ablehnt.

Amt und Dienst bilden, so betonte Hölzl, vom NT her keinen Gegensatz. Amt und Priestertum aller Gläubigen gehören zusammen. Ein Problem sah Hölzl darin, dass heute eher funktional gedacht werde. Dabei verliere man leicht das „Woher“ und das „Wesen“ der Sache aus dem Auge. Diese These führte Hölzl dann sehr deutlich aus anhand der Geschichte des deutschen Baptismus und an modernen Modellen der Gemeindeleitung.

Landeskirchlicher Gemeindebau

Einen vierten Vortrag hielt Prof. Dr. Helge Stadelmann unter dem Thema „Prognosen für die Zukunft des Gemeindebaus im landeskirchlichen Kontext“. Stadelmann vertrat darin die Ansicht, dass sich in den nächsten 50 Jahren vermutlich manche Kirchenmodelle (landes­kirchliche und freikirchliche) einander annähern würden. Drei Aspekte verdeutlichte Stadelmann in seinem Vortrag:

1. Hinter uns liegt ein Jahrhundert der Entkirchlichung. Am Anfang stand durch den 1. Weltkrieg ein wichtiger Umbruch, weg von der Staatskirche und hin zur Volkskirche im Sinne der „Kirche für das Volk“ (1918). Nach dem 2. Weltkrieg waren die Kirchen zunächst einige Jahre lang erfreulich voll. Es kam zu einem Aufschwung des kirchlichen Lebens, der aber bald schon wieder abebbte. Als wesentlicher Einschnitt kann hier die Kulturrevolution von 1968 angesehen werden. Bis zu dieser Zeit überstiegen die Kircheneintrittszahlen in der BRD noch häufig die Kirchenaustrittszahlen. Seit 1968 hat sich dieser Trend umgekehrt (ca. 200.000 bis 300.000 Kirchenaustritte pro Jahr). Heute haben wir eine „Drittelgesellschaft“ mit jeweils etwa gleichviel evangelischen, katholischen und konfessionslosen (bzw. moslemischen) Einwohnern. Dabei nimmt der Bereich der evangelischen Christen relativ schnell, der der katholischen Christen etwas langsamer ab.

Außerdem ist der Gottesdienstbesuch der Kirchenmitglieder vor allem im evangelischen Bereich sehr gering (zwischen etwa 2 und maximal 6 %). Diese prozentualen Verhältnisse haben sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert. Geht man allerdings von den absoluten Zahlen aus, zeigt dies eine ungeheuer stark entkirchlichte Gesellschaft. Interessant ist, dass auch in der ehemaligen DDR die gleichen Prozentzahlen zu beobachten waren. Das bedeutet, dass es hier nicht unter dem atheistischen Regime zu einem „Gesundschrumpfen“ der Gemeinde kam, d.h. dass es nicht so war, dass die am Rand der kirchlichen Lebens Stehenden austraten und die Kerngemeinde übrig blieb, sondern der Prozess der Schrumpfung betraf auch hier alle Bereiche.

2. Wir erleben seit einigen Jahrzehnten deutlich sichtbar das Ende des konstantinischen Zeitalters. In der DDR geschah dies bereits in den 50er und 60er Jahren, in der BRD begann der Prozess etwas später (ab etwa 1968) und geschah etwas langsamer, ist aber stetig. Erhalten geblieben sind von dem alten System einige „Säulen“: Kirchensteuer, Pastorenausbildung an staatlichen Universitäten (mit staatlicher Finanzierung), Religionsunterricht sowie Militärseelsorge. Im umgekehrten bietet die Kirche gewisse soziale Leistungen, an denen der Staat Interesse hat.

Dies wird sich jedoch, so vermutete Stadelmann, im Laufe der nächsten Jahre/Jahrzehnte ändern. Von den fünf im Bundestag vertretenen Parteien gibt es drei, die bereits heute diese Zuordnung von Kirche und Staat in Frage stellen (die Grünen, die FDP und die PDS). Auch innerhalb der SPD gibt es solche Stimmen. Solange sich die jetzigen Mehrheitsverhältnisse nicht ändern, ist innerhalb der beiden großen Parteien jedoch wohl nicht mit einer größeren Diskussion in dieser Hinsicht zu rechnen. Je größer allerdings das nichtchristliche Drittel wird, umso deutlicher wird auch in den großen Parteien diese Frage gestellt werden. Mittelfristig werden die aus der Weimarer Zeit stammenden Übereinkünfte zwischen Kirche und Staat sehr wahrscheinlich weitgehend aufgelöst werden.

Von daher ist es wichtig, so betonte Stadelmann, dass Kirche ein zum Teil bestehendes Anspruchsdenken etwa in Bezug auf die Freihaltung des Sonntagvormittags oder die Sonntagsheiligung insgesamt ablegen muss. Zugleich besteht damit die Chance, erneut im Sinne von Evangelisation und Mission werbend aktiv zu werden.

3. Als Prognose ist wahrscheinlich, dass sich innerhalb der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts der Schritt der augenblicklichen Volkskirchen zu Freikirchen eigenen Typs ereignen wird. Innerhalb des nächsten Jahrzehntes wird die Zahl der nicht zu christlichen Kirchen gehörenden Menschen in Deutschland auf etwa 40% anwachsen. Zu erwarten ist daher eine große Freikirche mit volkskirchentypischen Eigenschaften, so ein prognostisches Votum der EKU. Von daher ist missionarischer, evangelistischer Gemeindebau die Aufgabe der Stunde.

Dies bedeutet, so betonte Stadelmann, dass wir neu die gemeinsame Aufgabe zwischen Evangelikalen in Freikirchen und Evangelikalen in der Landeskirche im Blick auf Evangelisation und Mission sehen und auch miteinander über Modelle des Gemeindebaus nachdenken müssen. Wichtig ist, bereits jetzt vordenkend über diese zu erwartenden Entwicklungen nachzudenken und Modelle zu entwickeln, wie Kirche in einer nachkonstantinischen Zeit aussehen kann.

Das nächste Treffen der FAGPT wird am 5.-6.3.2001 stattfinden, ebenfalls im Neues Leben-Zentrum in Wölmersen.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 6/1 (2000)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie

22.07.2000
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