Am 24. März verabschiedete der Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz ein Wort zum Verhältnis von Christen und Juden, das von einer Arbeitsgruppe des AfeT intensiv vorbereitet war:

Zum Verhältnis von Christen und Juden

- eine Handreichung der Deutschen Evangelischen Allianz

1. Die besondere Beziehung

Die Gemeinde Jesu Christi steht zu den Juden in einer engeren Beziehung als zu irgendeinem anderen Volk. Die Offenbarung Gottes in Jesus geschah innerhalb des jüdischen Volkes und zunächst für das jüdische Volk. Sie erreichte durch jüdische Zeugen die Völker. Aus Israel als dem von Gott erwählten Volk stammen Jesus und die Apostel. Fast alle Verfasser der biblischen Bücher waren Juden. Die christliche Gemeinde hat die Heilige Schrift Israels unverändert als ersten Teil ihrer Bibel beibehalten und hat von der Weisheit Israels immer wieder gelernt. Die Christenheit ist ohne ihre jüdische Verwurzelung nicht denkbar. Der Gott Israels ist der Vater Jesu Christi. Nur als Messias Israels ist Jesus der Heiland der Welt. Paulus hat an seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk immer festgehalten. Die Bibel Jesu und der Apostel, die sie häufig zitieren, war und ist die Heilige Schrift Israels.

2. Die getrennten Wege in der Geschichte

2.1. Das Auftreten Jesu und das Werben der ersten Gemeinde führte von Anfang an zu tiefgreifenden Spannungen und Auseinandersetzungen innerhalb des jüdischen Volkes. Obwohl sich zunächst viele Juden zu Jesus als dem in ihren heiligen Schriften verheißenen Messias bekannten, blieb die Mehrheit der Juden bei der Ablehnung, und es kam schließlich zur vollständigen Trennung von Synagoge und Kirche. Dies hat bis heute das Verhältnis von Juden und Christen zutiefst geprägt. Die mehrheitlich heidenchristliche Kirche hat sich dankbar als „Volk des Eigentums“ Gottes verstanden, das in den Bund Gottes mit Abraham hineingenommen ist. Dieses Selbstverständnis hat jedoch viele theologisch vergessen lassen, daß daneben Israel als Volk unter einer bleibenden Berufung weiter besteht, und daß um seine Hinwendung zu Jesus in apostolischer Tradition hätte geworben werden müssen. In der Abgrenzung vom Judentum wurden auch Elemente eines vorchristlichen Antisemitismus übernommen und noch verstärkt. Antisemitismus erscheint weder psychologisch noch soziologisch zufriedenstellend erklärbar, sondern ist theologisch primär als Widerspruch gegen die Besonderheit Israels in der Völkerwelt anzusehen.

2.2. Besonders in Zeiten, in denen sich das Christentum mit politischer Macht verband, wurden Juden oft diskriminiert, unter Druck zur Taufe genötigt oder grausam in christlichen Namen verfolgt und getötet. Dies war möglich geworden durch eine Theologie, die das Kreuz Christi zu einer Waffe gegen Juden verkehrte und daraus einen Freibrief zur Aufhebung ihrer Rechte und ihrer Existenz ableitete. So entstand ein Klima, in dem menschliche Solidarität mit Juden als überflüssig erscheinen konnte. Das furchtbare Leiden der Juden konnte als von Gott gewollt und deshalb als rechtens bzw. unausweichlich und hinnehmbar verstanden werden. Mit dieser Geschichte der aktiven Verfolgung und des passiven Desinteresses ist die christliche Kirche und Theologie tief in die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung verstrickt. Deshalb bekennen wir, daß wir als Christen an den Juden schuldig geworden sind.

3. Die bleibende Verpflichtung

3.1. Im Neuen Testament hören wir, daß die Ablehnung Jesu als Messias für Heiden und Juden kein neutraler Vorgang ist. Genauso hören wir, daß Gott sein Volk Israel nicht verstoßen hat (Röm. 11, 1 ff.). Viele unter uns sehen in der Erhaltung des Volkes der Juden und in der Gründung eines Staates Israel im Land der Väter Zeichen der bleibenden Treue Gottes zu seinem alttestamentlichen Bundesvolk. Das Neue Testament macht deutlich, daß weder Juden noch Nichtjuden vor Gott als gerecht gelten, sondern daß „beide ohne Verdienst gerecht werden aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus kommt“ (Röm. 3, 9 ff. 24).

3.2. Hieraus ergeben sich folgende Einsichten, die wir festhalten und bekräftigen wollen:

3.2.1. Dankbar betonen wir die bleibende Gemeinschaft mit dem Volk des alten Bundes, die uns zu besonderer Nähe, Achtung und Verbundenheit mit den Juden in aller Welt ermutigt und verpflichtet.

3.2.2. Als Christen in der Evangelischen Allianz in Deutschland erkennen wir die Mitverantwortung unserer Kirchen und der christlichen Theologie für die Gleichgültigkeit gegenüber dem Volk der Erwählung. Dadurch wurde ein Klima des Antisemitismus begünstigt, in dem der Holocaust möglich wurde. Das Geschehene erfüllt uns mit Trauer und Scham.

3.2.3. Als Verantwortliche in den Gemeinden wollen wir darauf achten, daß die Verkündigung in Predigt und Unterricht nicht nur Vorurteilen wehrt, sondern zu deren Überwindung beiträgt. In den Gottesdiensten wollen wir für das evangeliumsgemäße Zeugnis unter den Juden beten.

3.2.4. Wir wenden uns entschieden gegen jegliche Form eines neu aufbrechenden Antisemitismus. Antisemitismus widerspricht dem Evangelium, er ist nicht vereinbar mit der Hoffnung und Berufung der Gemeinde Jesu Christi.

3.2.5. Im Gespräch mit Juden wollen wir lernen zuzuhören, ohne das Bekenntnis zu Jesus Christus zu verschweigen. Wir sind dankbar für Gespräche und Begegnungen, die uns nach dem 2. Weltkrieg von Juden ermöglicht wurden. Christen bekennen Jesus als den Mittler zwischen Gott und den Menschen, als den Messias Israels und Heiland der Welt. Dieses Bekenntnis darf niemandem aufgezwungen werden, wie es im Laufe der Geschichte leider manchmal geschehen ist. Christliches Zeugnis Israel gegenüber kann nur in Liebe geschehen. Es wird sich durch Gottes Geist bei denen, die es hören, als wahr erweisen, weil Gott sich selbst seine Gemeinde aus Israel und den Völkern sammelt.

3.2.6. Mit den Teilnehmern des II. Internationalen Kongresses für Weltevangelisation in Manila 1989 bezeugen wir, daß es zum Evangelium keine Alternative gibt und selbst „religiöse Menschen“ der Erlösung durch Christus bedürfen: „Es wäre eine Form des Antisemitismus wie auch der Untreue gegenüber Christus, von dem neutestamentlichen Muster abzuweichen, das Evangelium ‚den Juden zuerst‘ zu bringen“ (Das Manifest von Manila II. A. 3.). Christliche Mission ist Weitergabe des Evangeliums von Jesus Christus an Nichtchristen. Mission in diesem Sinne ist Ausdruck der Liebe zu Christus und zu den Menschen und schließt den Einsatz für die menschlichen und sozialen Belange der anderen ein. Einen grundsätzlichen Verzicht darauf, Juden zum Glauben an Jesus als ihren Messias einzuladen, kann es für Christen nicht geben. Im Verhältnis zu den Juden muß sich in besonderer Weise bewähren, daß der Missionsbefehl Jesu kein Herrschafts-, sondern ein Dienstauftrag ist.

3.2.7. Als Evangelische Allianz fühlen wir uns besonders verbunden mit den Juden, die an Jesus als ihren Messias glauben. Es muß uns ein Anliegen sein, sie zu unterstützen und ihren Dienst zu fördern. Juden, die an Jesus glauben, hören dadurch nicht auf, Juden zu sein. Viele von ihnen bezeugen ein tieferes Verständnis für die Bedeutung Israels. Wie keine andere Gruppe innerhalb der weltweiten Gemeinde Jesu vergegenwärtigen sie die jüdischen Wurzeln der Christenheit und helfen den Heidenchristen, diese besser zu verstehen. Wir stehen für ihre Freiheit zum christlichen Zeugnis in Israel und in unserem Land ein.

3.3. Im Dank für Gottes Treue geben wir unserer Hoffnung auf die Vollendung des Reiches Gottes Ausdruck, in welchem durch Jesus Christus versöhnte Menschen aller Völker in Frieden miteinander leben werden.

Bad Blankenburg,
24. März 1999

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 5/1 (1999)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie


23.12.1999
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