Aus englischsprachigen evangelikalen Zeitschriften

A. D. Baum

Die Frage nach der Zuordnung von Mann und Frau in Gemeinde und Familie wird unter Evangelikalen seit Jahren intensiv diskutiert. Vor allem in zwei Aufsatzbänden wurde in jüngster Zeit eine konservative Deutung von 1 Tim 2,9–15 vertreten. John Piper und Wayne Grudem haben vor fast zehn Jahren Recovering Biblical Manhood and Womanhood: A Response to Evangelical Feminism (Wheaton: Crossway, 1991) herausgegeben. Der von Andreas J. Köstenberger, Thomas R. Schreiner und H. Scott Baldwin herausgegebene Sammelband Women in the Church. A Fresh Analysis of 1 Timothy 2:9–15 (Grand Rapids: Baker, 1995) wurde inzwischen durch Andreas Köstenberger ins Deutsche übersetzt und ist – leicht gekürzt – 1999 unter dem Titel Frauen in der Kirche. 1. Timotheus 2,9–15 kritisch untersucht im Brunnen Verlag Gießen erschienen. Ein jüngst erschienener Zeitschriftenbeitrag setzt sich ausschließlich mit diesem Buch auseinander. Er wurde von dem Australier Kevin Giles, Rektor von St. Michael's Anglican Church, North Carlton, im Evangelical Quarterly (72 [2000] 151–167.195–205) veröffentlicht. Giles berichtet, viele australische Evangelikale fühlten sich durch Woman in the Church in ihrer Überzeugung bestärkt, dass der Bibel zufolge die Leitungsverantwortung in Familie und Gemeinde den Männern vorbehalten sei. Er will zeigen, dass das Buch, das seinem Eindruck nach emotionsgeladen und generalisierend argumentiert, „fundamentale theologische Irrtümer“ enthält.

Giles wendet sich gegen zentrale Thesen der Studie: Die Demokratisierung der modernen Gesellschaft und die Emanzipation der Frau sind aus biblischer Sicht im wesentlichen negativ zu werten (Robert W. Yarbrough). Frauen sind anfälliger für Verführung als Männer und können daher die apostolische Überlieferung schlechter bewahren (Thomas Schreiner). Woman in the Church verteidigt die Position, die in der Kirche bis ins 19. Jahrhundert hinein einhellig vertreten wurde (Daniel Doriani). Diesen Anspruch betrachtet Giles als Selbsttäuschung. Die historische Position der Kirche sei erheblich androzentrischer und frauenverachtender gewesen: Frauen hatten im Gottesdienst absolute Ruhe zu bewahren. Frauen waren den Männern auch außerhalb von Familie und Gemeinde untergeordnet. Und Frauen galten Männern gegenüber als minderwertig. Im Unterschied dazu ließen die Autoren von Women in the Church gottesdienstliche Äußerungen der Frauen außerhalb der Predigt zu, hielten das Lehren von Frauen an Theologischen Hochschulen für denkbar und bestritten die Minderwertigkeit der Frau. Nicht nur evangelikale Feministen, sondern auch die in der Frauenfrage konservativen Evangelikalen haben nach Giles die herkömmliche Position der Kirche aufgegeben.

In seinen Augen gehen Köstenberger und seine Mitautoren in der Kontextualisierung der biblischen Normen für die moderne Gesellschaft jedoch nicht weit genug. Giles lehnt das Konzept einer verbindlichen Schöpfungsordnung (Adam vor Eva geschaffen) ab. Die Kirche beziehe ihre Normen nicht aus der Schöpfungsgeschichte, sondern aus der Erwartung des vollkommenen Eschatons. Ein Lehrverbot für Frauen sei ein androzentrisches Erzeugnis. Es setzt Giles zufolge notwendig die Annahme ihrer Minderwertigkeit voraus: Der Frau muss etwas fehlen, was der Mann hat. Im übrigen vermutet Giles als verstecktes Motiv hinter der euphemistischen Außenseite von Women in the Church männliches Hegemoniestreben.

Giles eigene Deutung von 1 Tim 2,9–15 geht von zwei Grundannahmen aus: Paulus wollte mit seinem Verbot bestimmte Frauen abwehren, die häretische Lehren verbreiteten. Und er forderte die Christinnen in Ephesus situationsgebunden auf, auf ihre christliche Freiheit (Gal 3,28) zu verzichten, um Anstoß zu vermeiden. Sein Fazit lautet daher, 1 Tim 2,9–15 sei nicht auf die Gegenwart anzuwenden und für die moderne Christenheit nicht normativ.

Meines Erachtens ist Giles Interpretation, die er nur relativ knapp andeutet, verfehlt. Auch seine Kritik ist überzogen. Einige seiner Einwände gegenüber Women in the Church sind aber bedenkenswert. Vielleicht muss die Unterscheidung zwischen ewig gültigen theologischen Prinzipien und ihren kulturbedingten Ausprägungsmöglichkeiten noch sorgfältiger herausgearbeitet werden. Dasselbe hermeneutische Prinzip müsste im Idealfall problemlos auf sämtliche Anweisungen des Apostels Paulus anwendbar sein: Zum Kopftuch, zum Schmuck, zum Bruderkuss, zur Sklaverei etc. Die Diskussion geht weiter.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 6/2 (2000)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie

10.12.2000
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