Tagungsbericht

Pietismus – Neupietismus – Evangelikalismus

Identitätskonstruktionen im erwecklichen Protestantismus

4. Symposium der Forschungsstelle Neupietismus vom 13.-14.3.2015

Seit den 1960er Jahren hat sich in Deutschland der Begriff „Evangelikale“ als unscharfer Sammelbegriff für konservative und missionarische Strömungen in den evangelischen Landes- und Freikirchen durchgesetzt. Nachdem die wissenschaftliche Erforschung dieser neueren Geschichte des erwecklichen Christentums in Deutschland lange Zeit vernachlässigt worden war, sind in jüngster Zeit einige größere Untersuchungen zu diesem Themenfeld entstanden.

Vor allem wird dabei diskutiert, inwiefern man eine direkte Traditionslinie von Pietismus, Erweckungsbewegung und Gemeinschaftsbewegung zum Evangelikalismus ziehen kann, welche Rolle die Abgrenzung von den evangelischen Landeskirchen dabei spielte, und wie der Kulturwandel der 1960er und 1970er Jahre damit verbunden war. Dabei ist offensichtlich, dass die Kontinuität zu vorangegangenen Bewegungen keineswegs bruchlos war, was z. B. allein schon an der Vielfalt der Selbstbezeichnungen und der damit verbundenen Unsicherheiten deutlich wird. Bisher ist völlig ungeklärt, wie in den letzten 150 Jahren mit den Begriffen „pietistisch“, „altpietistisch“, „neupietistisch“ oder später „evangelikal“ als Selbstbezeichnungen oder Fremdzuschreibungen bewusst Identitäten konstruiert bzw. Abgrenzungen vorgenommen worden sind.

Ziel des 4. Neupietismus-Symposiums war es daher, die Geschichte solcher Selbstbezeichnungen und die damit verbundenen Konstruktionen eigener Gruppenidentität stärker aufzuklären und somit letztlich auch ein Verständnis dafür vorzubereiten, warum der Begriff „evangelikal“ ab den 1960er Jahren attraktiv erscheinen konnte. Dabei wurde auch die internationale Vorgeschichte dieses Begriffs in den Blick genommen. Welche Prägung gewann das Stichwort „evangelical“ in Großbritannien und in den USA? Welche Merkmale wurden damit verbunden, die es für die deutschen Kreise interessant machen konnten?

Zur Orientierung beschäftigte sich der Vortrag von Prof. Frank Lüdke (Tabor) zunächst mit dem Versuch einer Klärung des Begriffs „Neupietismus“. Er stellte die These auf, dass man zwei verschiedene Begriffsverwendungen unterscheiden müsse. Der Begriff sei zunächst in Württemberg nach dem Eindringen der Heiligungsbewegung ab 1875 in Unterscheidung vom Gemeinschaftsverband der „Altpietisten“ aufgekommen. Dadurch habe sich nach der Formierung des Gnadauer Verbands zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein interner Sprachgebrauch etabliert, bei dem man einzelne Verbände, die stärker durch angloamerikanische Impulse der Heiligungstheologie und Evangelisationspraxis geprägt waren, als „neupietistisch“ bezeichnete (z.B. Liebenzell, der DGD oder die Deutsche Zeltmission). Gleichzeitig aber wurde der Begriff seit 1900 von Kritikern der Gemeinschaftsbewegung immer wieder auf diese als Ganze bezogen. Generell tauchte der Begriff „pietistisch“ in der Gemeinschaftsbewegung als Selbstbezeichnung erst seit den 1970er Jahren wieder verstärkt auf. Dies könnte evtl. als eine bewusste Identitätskonstruktion interpretiert werden, die versucht, negativen Implikationen des Evangelikalismus-Begriffs durch den Rückgriff auf die ältere deutsche Tradition zu entgehen.

Im zweiten Vortrag machte Prof. Thorsten Dietz (Tabor)deutlich, dass das Verhältnis der frühen Gemeinschaftsbewegung zur wissenschaftlichen Theologie sehr spannungsvoll war. Mit den Eisenacher Konferenzen wurde seit 1902 versucht, Gemeinschaftsleute und Vertreter der positiven Theologie (Kähler, Cremer, Schlatter) zusammenzubringen. Zugleicht wollte Friedrich von Bodelschwingh mit der Theologischen Schule Bethel eine Brücke zwischen den positiven Kräften der Kirche und der Gemeinschaftsbewegung schlagen. Beide Versuche scheiterten, weil die gegenseitigen Vorbehalte zu groß waren.

Matthias Plaga-Verse (Siegen) zeigte danach auf, dass die Gemeinschaftschristen des Siegerlandes sich bis heute selbst als ‚Pietisten‘ bezeichnen. Die Wurzeln der eigenen regional geprägten Frömmigkeit werden dabei im reformierten wie lutherischen Frühpietismus und der Erweckungsbewegung verortet, wobei man sich ausdrücklich auf kirchenkonforme und radikale Pietisten vergangener Jahrhunderte beruft. Das reformierte Amtsverständnis und die Tätigkeit führender Gemeinschaftschristen als landeskirchliche Presbyter trug zur kritischen landeskirchlichen Verfasstheit des Gemeinschaftsverbandes bei. Dieses langjährige Alleinstellungsmerkmal und Charakteristikum der Siegerländer Gemeinschaftsbewegung wird in den letzten Jahrzehnten aber zunehmend infrage gestellt.

Der nächste Vortrag von Privatdozentin Dr. Gisa Bauer (Bensheim) weitete dann den Horizont der Tagung hin zur aktuellen Evangelikalismus-Debatte, indem sie sich mit Rezensionen zu ihrer eigenen Habilitationsschrift „Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland: Geschichte eines Grundsatzkonflikts 1945 bis 1989“ (Göttingen 2012) beschäftigte. Die vorliegenden Rezensionen wurden analysiert und daraufhin befragt, welche Identitätskonstruktionen der evangelikalen Rezensenten darin zum Ausdruck kommen.

In ihrem englischsprachigen Vortrag, „‘Who do they say they are?‘ Evangelical Self-Perception and the (re-)Invention of an Old Tradition“, ging Anja-Maria Bassimir (Mainz) der Frage nach, wie in evangelikalen Zeitschriften in den USA evangelikale Identität produziert wurde. Sie beschrieb, wie in den 1970er Jahren in Nordamerika das öffentliche Interesse am Evangelikalismus eine Sinnkrise bei Evangelikalen auslöste. In Krisen-Narrativen wurde jedoch nicht nur die Verwässerung des Begriffs „evangelikal“ lamentiert, sondern der Begriff auch für die eigene Gruppe definiert und damit die „eigentliche“ evangelikale Identität beschworen und von anderen Bewegungen abgegrenzt. Aufgrund ihrer Periodizität boten sich Zeitschriften als identitätsstiftendes und –absicherndes Medium an und wurden von den Machern evangelikaler Magazine auch so verstanden und eingesetzt. Sich selektiv in der Geschichte des Christentums bedienend, stellten sie Evangelikale in eine lange Tradition und evozierten so ein Bild der Evangelikalen als Gemeinschaft der authentischsten und bibeltreuesten protestantischen Christen.

Prof. David Bebbington (Stirling/GB) ergänzte das mit einem Blick auf die Geschichte der evangelikalen Bewegung in Großbritannien. Er verdeutlichte dabei das von ihm geprägte „Bebbington-Quadrilateral“, nach dem Evangelikale anhand von vier Grundüberzeugungen beschrieben werden können: ihrer Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel, der Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz, der Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung sowie dem aktiven Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums. Diese Christen formierten sich in Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert zum einen als evangelikaler Flügel der Anglikanischen Kirche, aber auch in nonkonformistischen Freikirchen in England, sowie in einer Transformation des schottischen Presbyterianismus in evangelikale Denominationen. Die Ursachen für diese Ausbreitung lagen zum einen darin, dass es ihnen gelang, ein breites Bevölkerungsspektrum anzusprechen, und zum anderen in einer großen Affinität zu den prägenden Grundideen der Aufklärung, die im 19. Jhd. von der Romantik und im 20. Jhd. durch den Expressivismus modifiziert wurden. Im Unterschied zum dominanten Einfluss der britischen Evangelikalen in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellen sie in der britischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher ein Randphänomen dar.

In direktem Bezug auf Prof. Bebbingtons Ausführungen bestritt Dr. Wolfgang Reinhardt (Kassel)danach dessen These, dass der Evangelikalismus erst 1730 mit einem deutlichen Bruch zur Tradition begonnen habe. Aus seiner Sicht lassen sich bereits am Puritanismus und früheren Erweckungen in Großbritannien und Nordamerika alle vier Elemente Bebbingtons aufzeigen. Vor allem sei in diesem Zusammenhang auch der kontinentale Pietismus mit seinem aktivistischen Zug zu nennen. Nach Reinhardt überschneiden sich „Evangelikalismus“ und „Pietismus“ im typologischen Sinn so stark, dass „evangelikal“ und „pietistisch“ oft austauschbar gebraucht werden können, wobei die Definition Bebbingtons um ein fünftes Element erweitert werden sollte, nämlich die „Gemeinschaft der Glaubenden“ oder spezifischer: die „überkonfessionelle Verbundenheit“ (transdenominationalism). Reinhardt unterstrich, dass Evangelikale im Gegensatz zu Klischees und groben Verzeichnungen in Kirche, Theologie und Medien äußerst vielgestaltig seien und doch eine Einheit unter einem „Schirm“ verbindender Überzeugungen bilden. Die Evangelikalen bilden heute nach den römischen Katholiken die größte und am stärksten wachsende Gruppe der Weltchristenheit, wobei der pfingstlich-charismatische Typ die größte Teilmenge bildet. Diese „neue Gestalt des Christentums“ ist vor allem eine Frucht der pietistisch-evangelikalen Erweckungsbewegungen und der daraus resultierenden Weltmission.

Prof. Jan Stievermann (Heidelberg) befasste sich in seinem Vortrag mit dem neuenglischen Missionar David Brainerd (1718-47), der nach seinem frühen Tod zu einer Art Kultfigur des anglo-amerikanischen Evangelikalismus wurde. Seine Missionstagebücher und vor allem seine von dem bekannten Theologen Jonathan Edwards (1703-58) veröffentliche Biographie (Erstveröffentlichung 1749) entwickelten sich schnell zu Klassikern der Erbauungsliteratur. Der Vortrag widmete sich der bisher völlig unerforschten Rezeptionsgeschichte dieser Texte im deutschsprachigen Raum, wo sie insbesondere in erwecklichen Kreisen auf beachtliche Resonanz stießen. Beispielhaft wurden die zwei frühesten Übersetzungen (1749 und 1756) in lutherisch-pietistischen Zeitschriften untersucht und danach gefragt, welche theologischen und religionspraktischen Interessen sich hier ablesen lassen und inwieweit hier ein Gemeinschaftsbewusstsein von Pietismus und anglo-amerikanischem Evangelikalismus im Horizont der entstehenden Missionsbewegung zu Tage tritt.

Prof. Erich Geldbach (Bochum) ging in seinem Vortrag der Frage nach, ob man Baptisten als Evangelikale bezeichnen kann. Er verwies dabei auf die theologischen Schwerpunkte des Baptismus in seiner Geschichte, die sich vor allem im Bereich der Ekklesiologie konzentrieren (kongregationalistische Gemeindestruktur, Glaubenstaufe, Freiwilligkeitsprinzip, Trennung von Kirche und Staat um die allgemeine Glaubensfreiheit zu gewährleisten) und die in dieser Form keine Entsprechung in der evangelikalen Bewegung haben. Die Neo-Evangelikalen hätten ihre Wurzeln eigentlich im Fundamentalismus, aber viele Fundamentalisten bezeichneten sich heutzutage als Evangelikale, wie z.B. auch der fundamentalistische Flügel der Baptisten. Diese Beobachtung ebenso wie die Betrachtung des eher konservativen Glaubensbekenntnis der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) lassen für Geldbach die Frage aufkommen, welche Ziele damit verfolgt werden, wenn immer wieder von 600 Millionen Evangelikalen weltweit gesprochen wird, und ob es überhaupt eine kohärente evangelikale Theologie gibt. Diese Fragestellung ließe sich auch auf die sehr vielgestaltige baptistische Bewegung anwenden.

Prof. Ulrike Treusch (Gießen) fragte in ihrem abschließenden Vortrag „Der deutsche CVJM im 20. Jahrhundert: Umstrittene Identität – erwecklich, pietistisch oder einfach missionarisch?“ nach dem Selbstverständnis dieser aus dem erwecklichen Protestantismus des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen, heute überkonfessionellen christlichen Jugendorganisation. Anhand der offiziellen Verlautbarungen und von Selbstaussagen der Leitungspersonen zwischen 1880 und 1980 untersuchte sie die Identitätsbildung des deutschen CVJM in den Spannungsfeldern von CVJM und Kirche, von Dach-Organisation und Ortsverein sowie von deutscher und internationaler YMCA-Bewegung. Ein Ergebnis war, dass sich der CVJM fast seit seiner Gründung in einer Diskussion über seine Identität befindet. In dieser spielt das Gründungsdokument der internationalen CVJM-/YMCA-Bewegung, die Pariser Basis (1855), eine entscheidende Rolle. In deutscher Interpretation begründet diese Basis die Identität des CVJM als evangelistisch-missionarische Arbeit unter jungen Männern/Menschen.

Einen besonderen Akzent bildete der öffentliche Abendvortrag von Prof. Tobias Faix und Dr. Tobias Künkler vom Marburger Bildungs- und Studienzentrum, die die Ergebnisse ihrer Untersuchung „Warum ich nicht mehr glaube!“ vorstellten. Für diese Dekonversionsstudie waren ca. 300 Personen gefragt, die einmal Christen gewesen waren und sich dann vom Glauben abgewandt hatten. Mit 15 wurden qualitative Interviews durchgeführt. Dabei wurden vier Leitmotive für eine Dekonversion festgestellt: Moral, Intellekt, Identität und Gottesbeziehung. Diese Leitmotive tauchten jeweils in zwei verschiedenen Spielarten auf. Für die erste Gruppe spielte die moralische Dimension des Glaubens eine entscheidende Rolle, indem sie sich entweder grundsätzlich eingeengt gefühlt oder tiefe Verletzungen erlebt hatten. Die zweite Gruppe scheiterte an intellektuellen Fragen, entweder wegen ungeklärter spezifischer Zweifel oder aufgrund eines Grübelns über Lebenserfahrungen, die mit dem Glaubensgebäude anscheinend nicht zusammen passen. Für die dritte Gruppe spielten Identitätsfragen die zentrale Rolle, entweder, weil es nicht gelang einen Kinderglauben zu einem tragfähigen Erwachsenenglauben zu transformieren oder weil man zerrissen war zwischen der eigenen Selbstwahrnehmung und dem Anspruch des Glaubens. Schließlich scheiterte der Glaube der vierten Gruppe an dem Anspruch an die eigene Gottesbeziehung, entweder, weil man aufgrund mangelnder Gotteserfahrungen enttäuscht war oder Leiderfahrungen nicht in den eigenen Glauben integrieren konnte. Abschließend gaben die Referenten Hinweise, welche Relevanz diese Ergebnisse für die praktische Gemeindearbeit in evangelikalen Gemeinden hätten.

Insgesamt hat sich durch die Referate und Diskussionen dieses Marburger Symposiums gezeigt, wie fruchtbar die Frage nach den eigenen Identitätskonstruktionen ist. Pietismus, Neupietismus und Evangelikalismus waren immer schon strittige Termini, um deren Bedeutung gerungen wurde, die in Abgrenzung zugespitzt oder in Ausweitung verallgemeinert worden sind. Es scheint nicht möglich zu sein, sich über diese Begriffe zu verständigen, ohne zugleich die mit ihnen verbundenen Konflikte und Gegensätze zu thematisieren. Deutlich wurde auf der Tagung auch, dass in der weiteren Forschungsarbeit immer wieder präzise ausgewählte Phasen der Geschichte und konkrete Streitfragen analysiert werden müssen, um ein Verständnis dieser Konzepte zu entwickeln. Insofern werden auf dem Gebiet der erwecklichen Strömungen der letzten 150 Jahre noch viele weitere Untersuchungen und Detailstudien nötig sein.

Die Tagung wurde diesmal durchgeführt in Kooperation mit der Forschungsstelle Neupietismus der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg.

 

Frank Lüdke