Zur kirchengeschichtlichen Arbeit gehört fast immer auch die Darstellung und Erforschung von Biographien, und so stand die diesjährige Tagung der Facharbeitsgruppe Historische Theologie am 24. Februar 2018 (Gießen) unter dem Oberthema „Biographie(forschung)“. Vier Vorträge beleuchteten unterschiedliche Aspekte von Biographie(forschung) und die jeweils anschließende Gesprächs- und Diskussionsrunde zeigte, dass das Thema für alle von Interesse und mit dieser Tagung längst noch nicht abgeschlossen ist.
Den Anfang machte ein Beitrag von Dr. Gottfried Sommer (Trossingen) zu „Johann Christoph Blumhardt – Biographie und Eschatologie“. Als Beispiel für das Ineinander von Biographie und Theologie stellte G. Sommer Leben und Werk Johann Christoph Blumhardts (1805-1880) im Horizont von eschatologischen Erwartungen vor. So stand der aus einfachen Verhältnissen stammende Blumhardt unter dem Einfluss einer pietistischen ‚Volks-Eschatologie‘ mit einer Naherwartung der Wiederkunft Christi und der Erwartung eines vorausgehenden, dreijährigen Auftretens des Antichristen, der „die Gläubigen köpfen wird“. Durch seine Kontakte nach Korntal war Blumhardt auch mit chiliastischen Vorstellungen vertraut, und ebenso stand die von ihm verfasste Missionsgeschichte als Weltgeschichte unter eschatologischem Vorzeichen. Auch Blumhardts seelsorgerliches Wirken an dämonisch belasteten Menschen in Möttlingen ist primär im Horizont eschatologischer Erwartung zu verstehen, so G. Sommer: In Auseinandersetzung mit der katholisch-apostolischen Bewegung entwickelte Blumhardt die Hoffnung auf ein neues Pfingsten und sah unter den Leitgedanken „Jesus ist hier“ und „Dein Reich komme“ in den Heilungen das Reich Gottes jetzt sichtbar anbrechen, so dass er seine eigene Zeit sowohl als eine Zeit des Gerichts als auch eine Zeit großer Gnade deutete. – Dass Blumhardts Wirken darüber hinaus bis heute noch präsent ist, sei es lokal in Bad Boll oder literarisch in einem Comic, bestätigten im anschließenden Gespräch besonders die aus Württemberg kommenden Kollegen.
In einen anderen Aspekt von Biographie-Arbeit führte das zweite Referat von Uwe Bertelmann (Gießen) ein, der den „Streit um Luthers Kirchenideal um die Wende zum 20. Jh. – von Rudolf Sohm zu Karl Holl“ vorstellte. Hat Otto Dibelius einmal gesagt „Für Deutschland ist Luther eine Gestalt der Gegenwart“, so gilt dies auch im Blick auf eine theologische Debatte, die im 19. Jh. im Hintergrund der zeitgenössischen Tendenzen zu Entflechtung von Staat und Kirche und zur Entwicklung von selbständigen Landeskirchen geführt wurde. Der theologische Streit kreiste um die Frage der Luther-Deutung: War Luthers Ideal eine konsistoriale oder eine presbyteriale Verfassung der Kirche? Legitimierte Luther theologisch ein obrigkeitliches Kirchenregiment oder vertrat er das Gemeindeprinzip, wollte er eine Volkskirche oder eine Freiwilligkeitskirche? U. Bertelmann gab am Beispiel von Rudolf Sohm, Karl Rieker, Karl Friedrich Müller und Karl Holl einen profunden Einblick in die theologische Argumentation und ekklesiologischen Vorstellungen der vier Theologen, die sich alle auf (freilich unterschiedliche) Schriften und Gedanken Martin Luthers beriefen, um mit Luther als Gewährsmann in der aktuellen Diskussion ihre Position zu vertreten. Dabei herrschte grundlegender Dissens darüber, was bei Luther äußere, sichtbare Kirche sei und wie sich diese zur unsichtbaren Kirche verhalte. Bertelmann machte darauf aufmerksam, dass in dieser Diskussion des 19. Jh. der Gedanke der „Sammlung der Gläubigen“ neu diskutiert wird, was die spätere Luther-Forschung im 20. Jh. nicht mehr weiterführte, und ermutigte aktualisierend dazu, den Gedanken der Sammlung in nach-volkskirchlichen Zeiten wieder aufzunehmen. Dass die Luther-Interpretation nicht nur eine Frage im referierten Kontext des 19. Jh. war, zeigte die sich anschließende lebhafte (aber harmonische!) Diskussion.
In die lokalgeschichtliche Forschung nahm uns Prof. Dr. Bernd Brandl (Liebenzell) mit, der – selbst in Schömberg wohnend – die „Ausgrenzung und Verfolgung von Juden in der Zeit von 1933-1945 im heilklimatischen Kurort Schömberg/Schwarzwald“ in den letzten Jahren erstmals grundlegend erforscht hat. Auf Basis von Taufbüchern, Protokollen des Gemeinderats, Entnazifizierungsprotokollen sowie Interviews mit Zeitzeugen zeichnete B. Brandl das Schicksal von Juden in Schömberg nach. Der Schwarzwaldort war bis ins 20. Jh. neben Davos der wichtigste Kurort für Lungenkranke, und so finden sich in den 1930er Jahren unter den Tuberkulose-Kranken auch prominente jüdische Kranke, wie z.B. der Psychologe Adhemar Gelb (1887-1936), der mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Professur an der Universität Halle verlor, wegen seiner Erkrankung an Lungentuberkulose 1935 nach Schömberg ging, wo er von seinen Mitpatienten (als Jude) aus dem Sanatorium geworfen wurde. Neben den Patienten ließen sich aber auch Juden dauerhaft im Kurort Schömberg nieder, wie z.B. die Familie Eckstein. Erwin Eckstein (1898-1972) war Kaufmann für photographische und Drogerie-Artikel in Schömberg, ließ sich evangelisch trauen sowie sich und seine Kinder taufen und war vor 1933 voll integriert in Schömberg. Doch bereits im April 1933 wurde zum Boykott gegen sein Geschäft aufgerufen und die Familie Eckstein wurde in den kommenden Jahren Opfer systematischer Diffamierung, so dass sie Ende der 1930er Jahre nach Frankreich flüchten musste. B. Brandl stellte ausgewählte Einzelschicksale vor und vertrat abschließend die These, dass der heilklimatische Kurort Schömberg vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen (man wollte den Kurort attraktiv machen für die neuen Herren) anfällig für die nationalsozialistische Ideologie gewesen sei.
Dass die Aufarbeitung von Biographien im Nationalsozialismus auch ein Thema der Autobiographie-Arbeit ist, zeigte die Analyse der „Deutung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Autobiographie des Missionsdirektors Wilhelm Nitsch“ durch Elmar Spohn, Doctor of Theology (Unisa), Korntal. Wilhelm Nitsch (1873-1962), von 1911 bis 1949 Missionsdirektor der Neukirchener Mission und eine einflussreiche Persönlichkeit in Gemeinschaftsbewegung und Evangelischer Allianz, verfasste 1954 seine Autobiographie „Als die Unbekannten und doch bekannt. Erinnerungen und Bekenntnisse“ (1960 erschienen). E. Spohn setzte die Aussagen Nitschs in seiner Autobiographie ins Verhältnis zu den Schriften Nitschs aus den 1930er Jahren sowie zu Akten zu Nitsch vom Archiv der Neukirchener Mission bis zur Gestapo-Akte im Staatsarchiv Düsseldorf. In der Gegenüberstellung von Autobiographie und Äußerungen Nitschs in den 1930er Jahren zeigen sich Diskrepanzen: So habe Nitsch z.B. gemäß seiner Selbstdarstellung (1954) schon früh Zweifel am Nationalsozialismus gehabt und verstand sich rückblickend als Antifaschist (was in der Lokalgeschichte zur Wahrnehmung von Nitsch als Widerstandskämpfer führte). Nitschs zeitgenössische Äußerungen, z.B. im Missionsblatt ‚Der Missions- und Heidenbote‘, vermitteln dagegen das Bild einer großen Begeisterung für die „nationale Erhebung“ und ein klares Votum für den Nationalsozialismus. Solche Diskrepanzen finden sich, so E. Spohn, auch im Blick auf das Verhältnis Nitschs zur Wahl Hitlers, zu Hitlers Außenpolitik oder seiner Stellung zum Krieg. Von diesem Fallbeispiel ausgehend, fragte der Referent nach der Bewertung dieser Diskrepanzen und hielt dabei fest, dass die Autobiographie von Nitsch nichts Unwahres sage, sondern Aspekte der Wahrheit verschweige, und Autobiographien letztlich ein konstruiertes Bild der Vergangenheit (auch: geschönte Erinnerung) bieten. Er eröffnete damit die Diskussion über die in den 1950/60er Jahren üblichen Maßstäbe autobiographischer Darstellung, über den mentalitätsgeschichtlichen Wandel und über Autobiographien von Zeitgenossen Nitschs. – Auch hier hätte das Gespräch noch fortgesetzt werden können, doch war die Zeit fortgeschritten, und so endete die Tagung im Gedenken an den wenige Tage zuvor verstorbenen Billy Graham (gest. am 21.02.2018) mit einem Wort des großen Evangelisten: „Bete um ein dickes Fell und ein weiches Herz.“