Einleitung Rolf Hille: Zunächst wird uns der Vizepräsident der Evangelischen Kirche in Deutschland, Dr. Hermann Barth, ein Grußwort sagen. Wenn man evangelikale Theologie hört oder den Begriff im generellen „evangelikal“, gehen ja bei manchen auch Scheuklappen herunter, man hat gewisse Vorurteile, was sei das, vielleicht auch im Bereich der akademischen Theologie zunächst etwas mit vorsichtigen Handschuhen angefasst, dieses Objekt „evangelikale Theologie“, wer sich die Grundlage, die Glaubensgrundlage des Arbeitskreises für evangelikale Theologie anschaut, die ist identisch mit der der Deutschen Evangelischen Allianz, der wird merken, die evangelikale Bewegung will eine Bewegung sein im Herzen und Zentrum des christlichen Glaubens, wie er von seinen Anfängen her gewesen ist. In dieser Basis [stehen neben der] Grundaussage des Glaubens an Jesus Christus und den dreieinigen Gott die elementaren Einsichten der Reformation des 16. Jahrhunderts und von daher sind wir dankbar, dass die Evangelische Kirche in Deutschland immer wieder signalisiert hat, dass sie dieses Unternehmen Arbeitskreis für evangelikale Theologie ernst nimmt und fördern möchte und dass auch dann sehr konkret getan hat durch regelmäßige Zuwendung von Zuschüssen, die wir dann im Rahmen vor allem unserer Studienkonferenzen auch dringend brauchen konnten.
Sehr geehrter Herr Dr. Hille, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Seit einer Reihe von Jahren macht das Stichwort von der „Theologieverdrossenheit“ in Kirche und Pfarrerschaft die Runde. Wolf Krötke, der an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität lehrende Systematiker, hat jüngst in einem Vortrag – noch treffender, noch schärfer – von „theologischer Erschlaffung“ gesprochen. Ich gestatte mir, einige Sätze Wolf Krötkes zu zitieren:
„Die törichte Rede von der Verkopfung der Theologie hat Früchte getragen. Der Segen des Kopfes, dass man nämlich Abstand von den Verwicklungen in die Situation bekommt und Freiheit für die Konzentration auf das, was eigentlich wichtig ist, wird, indem man ihn nicht gebraucht, brach liegen gelassen… Angesichts der immer größer werdenden Arbeitsbereiche wird immer wieder gesagt: keine Zeit für dergleichen. Ohne Zeit für Theologie aber gibt es überhaupt keine Theologie. Denn Theologie ist denkende Rechenschaft, und im ‚Denken wird jeglich Ding einsam und langsam‘ (M. Heidegger). Was angenommen ist, ist der schnell verwertbare praktische Ratschlag, der sich aber ebenso schnell verbraucht. Da partizipieren wir durchaus am Tempo der Verwertungsgesellschaft, die sich auch auf das geistige Leben ausgebreitet hat. Die Gefahr, die darin liegt, ist klar: Die Kirche stellt sich in der entkirchlichten Situation immer weniger als eine geistige Kraft dar … Der Mangel an Theologie bewirkt einen Dogmatismus aus Faulheit: große, leere Worte gepaart mit der Hoffnung, die Verstärkung der Darstellung der Subjektivität würde schon für die genügende Glaubwürdigkeit sorgen … Wenn jedoch verworren und diffus, aber auch abgestanden und ausgeleiert ist, was eigentlich persönlich dargestellt werden soll – dann ergibt das im ganzen ein unkonzentriertes Herumstochern in der Situation.“
Das klingt streckenweise ein wenig resignativ – und ist doch in Wahrheit ein leidenschaftlicher Appell an die gesamte evangelische Kirche und Theologie. Insofern auch an den Arbeitskreis für evangelikale Theologie. Denn auf allen Ebenen – in den Kirchenleitungen, in der wissenschaftlichen Theologie, in den Pfarrkonventen, in freien Arbeitskreisen – sind wir gefordert, der Theologieverdrossenheit und der theologischen Erschlaffung zu wehren. Wieder Leidenschaft für die theologische Arbeit zu entfachen. Neu die Freude an der theologischen Arbeit zu wecken. Das ist ja auch das einzig erfolgversprechende Rezept, um den Rückgang der Zahl der Theologiestudierenden an unseren Fakultäten aufzuhalten: Wer wieder mehr junge Menschen für das Theologiestudium gewinnen will, der muss ihnen überzeugend vermitteln können, dass dieses Studium sich lohnt, dass Theologietreiben für einen selbst, für unserer Kirche, ja für die gesamte Gesellschaft – wie man heute sagt – „etwas bringt“.
Wolf Krötke charakterisiert die Theologie als „denkende Rechenschaft“. Es gibt aber keine denkende Rechenschaft ohne die Freiheit des eigenen Gedankens. Theologie darf nicht schon im voraus wissen wollen, welches Ergebnis herauskommen soll. Keine Kreativität ohne Freiheit, keine überraschenden Entdeckungen ohne Freiheit. Theologie darf auch nicht eingeengt werden darauf, nachzusprechen, was andere vorgeben. Theologie braucht darum die Freiheit, bisherige Glaubensvorstellungen weiterzuentwickeln, zu korrigieren, ja zu destruieren. Theologie kann kritisch werden gegenüber überkommenen Auffassungen, vor allem dann, wenn sie bloß aus Denkfaulheit oder Ängstlichkeit festgehalten werden. Daraus ergibt sich im Umgang mit der Heiligen Schrift auch das bleibende Recht der historisch-kritischen Bibelexegese. Ich habe selbst einen langen Abschnitt meiner beruflichen Arbeit als Theologe im Fach Altes Testament zugebracht und bis heute die Freude an der historisch-kritischen Exegese und den Verstehenszugängen, die sie erschließt, nicht verloren. Ich habe mich dabei aber auch weiterentwickelt und sehe heute schärfer als vor 30 Jahren, dass die historisch-kritische Exegese gelegentlich in der Gefahr steht, ihr eigentliches Ziel aus den Augen zu verlieren: Sie will Zugänge zum Verstehen eines Textes bahnen, sie will Texte auslegen, sie darf sich nicht darin erschöpfen, Texte analytisch zu zergliedern.
Der Freiheit theologischer Arbeit korrespondiert ihre Bindung: die Bindung an den christlichen Glauben, im Fall der evangelischen Theologie die Bindung an den christlichen Glauben in seiner reformatorischen Ausprägung. Und „reformatorische Ausprägung“ ist unübertrefflich beschrieben in den „allein“-Formeln: allein Christus, allein durch die Gnade, allein durch den Glauben, allein im Wort, allein die Schrift. Theologie entsteht aus dem Glauben, nämlich aus dem Glauben, der denkende Rechenschaft sucht, wie es ja in der alten und schönen Formel heißt: fides quaerens intellectum – Glaube, der denkende Rechenschaft sucht. Wo Theologie die Bindung an den christlichen Glauben verliert, wo Theologen Ungläubige werden, wo sie in ihrer Kirche nicht mehr ihre Heimat, sondern ihre Gegner sehen – und wer dürfte sich sicher fühlen, dass ihm oder ihr das nicht zustoßen könnte? –, da ist zwar noch religionswissenschaftliche Arbeit, aber keine evangelische Theologie mehr möglich.
Ich habe die Einladung zu der heutigen Festversammlung gern angenommen. Vortrag ergänzt hier: Ich sehe in der Einladung an die EKD und an meinem hiersein als Vertreter aus der EKD ein Zeichen dafür, dass wir voneinander etwas erwarten, dass wir uns nicht argwöhnisch betrachten, sondern dass wir beide miteinander voneinander etwas erwarten. 25 Jahre Arbeitskreis für evangelikale Theologie – das ist ein Grund zum Feiern und zur Dankbarkeit. Meine Wünsche für das nächste Vierteljahrhundert des Arbeitskreises habe ich implizit bereits ausgesprochen: Er möge weiterhin, er möge noch mehr dazu beitragen, dass in der evangelischen Kirche die Leidenschaft für theologische Arbeit angefacht und die Freude an ihr geweckt wird. Ob der Arbeitskreis nach weiteren 25 Jahren immer noch seinen heutigen Namen trägt, überlasse ich getrost der künftigen Entwicklung. Eigentlich, verzeihen Sie die freimütige Bemerkung, eigentlich sind Sie ein evangelikaler Arbeitskreis für Theologie und nicht ein Arbeitskreis für evangelikale Theologie. Ich mag die Adjektiv-Bestimmungen nämlich nicht, mit denen die theo1ogische Arbeit auf bestimmte Positionen festgelegt wird. Alle mitgebrachten Positionen stehen ja zur Disposition, wenn wir uns auf das Abenteuer der theologischen Arbeit einlassen. Ob wir evangelikal sind oder liberal, ob sozialkritisch oder spirituell – was uns zusammenführt und verbindet, ist theologische Arbeit in der Bindung an den christlichen Glauben, ergebnisoffen, aber zielorientiert. In diesem Sinne – möge Gott Ihre Arbeit segnen.
31.05.2003 |